Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
elektrische Schreibmaschine, die schon damals altmodisch war, als er … verschwand. Keine Ahnung, warum er keinen Computer benutzt hat, aber das kann doch nicht wichtig sein, oder?«
Allmählich wurde Wexford klar, dass er nichts Neues erfuhr und es höchstwahrscheinlich auch in Zukunft nichts Neues geben würde. Nachdenklich saß er da und meinte: »Wer von Ihnen würde uns denn gern eine DNA-Probe geben?«
»Ich, bitte«, rief Selina.
»DC Thayer wird Sie für den Abstrich ins Prinzessin-Diana-Krankenhaus fahren.«
Kaum war sie in Begleitung von Adam Thayer verschwunden, der anscheinend sein Glück nicht fassen konnte, sagte Vivien: »Ich habe Mamas Ehering mitgebracht. Wissen Sie, beide trugen die gleichen Ringe mit der gleichen Gravur auf der Innenseite.«
In einem kleinen, wiederverschließbaren Plastikbeutel lag ein goldener Ring, der mit einem fortlaufenden Blattmuster ziseliert war und auf der Innenseite die Inschrift »Für immer« trug.
»Ihr Vater hatte seinen Ring natürlich getragen, oder?«
»Aber ja. Beide haben ihre Ringe meiner Meinung nach nie abgenommen, nicht einmal unter der Dusche oder zum Händewaschen.«
Bei den Überresten aus dem Graben hatte man keinen Ring gefunden. Möglicherweise ist er ins Erdreich gefallen, nachdem das Fleisch am Ringfinger verwest war, dachte Wexford. Andererseits hatte man die Erde beim Bergen der Leiche sorgfältig durchsiebt. Er wusste noch, wie er die maskierten Männer in ihren weißen Anzügen beim Hantieren mit Sieben beobachtet hatte. Vivien schien seine Gedanken zu lesen.
»Wir würden gern die … den Leichnam sehen. Geht das?«
Beinahe hätte es ihn geschüttelt. »Ich glaube, nein, Miss … äh, Vivien. Wenn Sie es wünschen, kann ich Sie nicht daran hindern, allerdings würde ich Ihnen davon abraten. Es ist« – er musste es aussprechen – »fast nur noch ein Skelett übrig.«
Sie war weiß geworden. »In Ordnung. Ich verstehe.«
Sie hatte nichts begriffen, natürlich nicht. »Meiner Ansicht nach würde Sie dieser Anblick vielleicht nie mehr loslassen, und außerdem wäre es sinnlos. Sie kämen der Identifizierung Ihres Vaters keinen Schritt näher. Dabei wird uns die DNA-Probe helfen. Trotzdem dürfen Sie nicht vergessen, dass es sich vielleicht gar nicht um ihn handelt. Bitte, gehen Sie hier nicht in dem Glauben weg, man hätte Ihren Vater gefunden.«
Vivien stand auf. »Soll ich hier auf meine Schwester warten?«
»Wir können Ihnen einen gemütlicheren Warteraum zur Verfügung stellen. Später müsste ich mir vielleicht den Ring ausborgen. Wäre das möglich?«
»Selbstverständlich.«
Wenn die Probe positiv ausfiele, würde er noch manche Frage haben.
17
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Noch in derselben Nacht begann er mit der Lektüre von Spurlos verschwunden . Selina hatte den Inhalt korrekt zusammengefasst: die Gespräche, die sie und Vivien mit den Lehrerkollegen von Alan Hexham und mit Schülern aus seiner Kollegstufe geführt hatten, die sorgfältige Durchsuchung seines Arbeitszimmers, ihre Spekulationen über ein Aufbaustudium, wofür er eventuell gelernt hatte. In ihrem Buch fanden sich auch einige Originalzitate aus dem Gespräch mit Denis Cole, das sie aufgezeichnet hatte, sowie ihre Nachforschung wegen des Gerüchts, ihr Vater hätte Schulden gehabt. Inzwischen war der Chief Inspector müde, aber es reichte immer noch nicht, um auf der Stelle einzuschlafen. Beim Weiterlesen wurde ihm allmählich klar, dass die beiden Mädchen gründliche Detektivarbeit geleistet hatten, die selbst der von Profis kaum nachstand. Und trotzdem – was war dabei herausgekommen? Was hatten sie gefunden? Nichts.
Um zehn Minuten vor ein Uhr war er mit dem Buch fertig. Trotzdem konnte er noch geraume Zeit nicht einschlafen, so aufgekratzt war er. Als es dann doch so weit war, träumte er nicht von einem vermissten Mann im mittleren Alter, sondern von einem kleinen Somalimädchen, das verschwunden war, während Familie und Freunde bestritten, dass es je gelebt hatte. Am Morgen merkte er, dass sich seine Gedanken nicht mehr in erster Linie um Alan Hexham und dessen Töchter drehten, sondern dass sich Irene McNeil anschickte, mit tatterigen Schritten deren Platz einzunehmen. Im Schlaf hatte er eine Entscheidung getroffen. Trotz ihres Alters und ihrer Behinderung musste er Irene McNeil verhaften lassen und sie auf dem Revier verhören. Und dann würde es zur Anklage kommen. Weshalb? Mit Sicherheit wegen Verschleierung eines Todesfalls. Der schießwütige Ronald McNeil
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