Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
Ihnen mitteilen, dass die Höchststrafe …« Das würden sie nicht verstehen, davon hatten sie nicht die geringste Ahnung. »Die größte Strafe – verstehen Sie? – sind vierzehn Jahre im Gefängnis für alle, die dieses Gesetz brechen.«
Sie waren stumm. Plötzlich drang aus dem Nebenzimmer herzhaftes Kinderlachen. Rashid Imran blickte auf und sagte: »Wir können davon nicht sprechen. Es ist nicht richtig, davon zu sprechen. Sie müssen wissen, dass wir die Kinder nur in Ferien mitnehmen, sonst nichts. Sie sollten jetzt gehen.«
Sie hatte keine Wahl. Shamis begleitete sie zum Abschied bis an die Wohnungstür. Lyn bückte sich hinunter und gab ihr einen Kuss. Kaum waren sie im Treppenhaus, sagte sie: »Nun?« Karen zuckte die Achseln.
»Keine Ahnung. Sie haben kein Wort dazu gesagt; weder dass sie gegen noch dass sie für weibliche Genitalverstümmelung sind. Ich muss erst mal sehen, was der Guv dazu meint.«
Kaum waren sie zurück, testete sie, wie weit sie bei ihm gehen konnte: »Wir könnten Shamis vor der Abreise untersuchen lassen und dann wieder nach ihrer Rückkehr.«
Wexford schüttelte den Kopf. »So einfach ist das alles nicht, Karen, und das wissen Sie. Mit welcher Begründung sollten wir sie untersuchen lassen? Außer der Vermutung ihrer älteren Schwester haben wir nichts in der Hand. Wird sie misshandelt, wird sie missbraucht? Mit Sicherheit nicht. Es klingt nach einem fröhlichen Zuhause, nach braven fürsorglichen Eltern und glücklichen Kindern. Es besteht das Risiko, dass man sie in naher Zukunft schwer misshandeln wird, aber bisher droht ihr nichts, und wir haben keinen Beweis.«
»Und wenn man sie verstümmelt zurückbringt? ›Beschnitten‹ möchte ich es nicht nennen. Das klingt nach dem, was man mit neugeborenen Jungs macht, und das ist es eben nicht .«
»Karen«, sagte er zu ihr wie zu einer seiner Töchter, »es tut mir sehr leid, dass ich Ihnen das sagen muss. Glauben Sie mir, mir ist diese Angelegenheit genauso verhasst wie Ihnen. Aber nur wenn das Kind eindeutig verstümmelt hierher zurückkommt, wenn die Eltern es wegen Blutungen oder Blutvergiftung ins Krankenhaus bringen müssen, nur dann können wir handeln.«
»Und wenn es nicht so ist? Wenn man unter hygienischen Bedingungen arbeitet, was dann?«
»Nichts. Wir würden es nicht erfahren.«
»Matea wird es uns sagen«, widersprach Karen.
»Wirklich? Wenn es bedeuten würde, dass ihr Vater oder ihre Mutter oder beide Eltern für bis zu vierzehn Jahre ins Gefängnis wandern? Mateas Aussage war eine Sache, als das Ganze nur drohend im Raum stand, aber sobald das Kind verstümmelt wurde und man daran nichts mehr ändern kann, sieht es ganz anders an. Momentan können wir lediglich abwarten.«
Beide Schwestern kamen, Selina und Vivien. Sie hätten Zwillinge sein können, so ähnlich sahen sie sich: große schlanke junge Frauen mit ungeschminkten Gesichtern und kurzen Fingernägeln. Aber während die dunkelbraune Selina einen Bob mit Pony trug, hatte Vivien ihre langen Haare am Hinterkopf zu einem Knoten geschlungen. Selina trug ein Hemd zu Jeans, Vivien einen langen Rock mit einer Seidenjacke. Sie setzten sich auf die beiden Stühle, die man auf die andere Seite von Wexfords Schreibtisch gestellt hatte, und er bat um Tee.
»Nett von Ihnen, dass Sie gekommen sind«, sagte er.
»O nein, mit Nettigkeit hat das gar nichts zu tun«, rief Selina mit tiefer melodiöser Stimme. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie wunderbar es ist, unseren Vater zu finden.«
Er war sprachlos, tat aber sein Bestes, um sich nichts anmerken zu lassen. Für diese Vermutung hatte sie sich kühn über ein Dutzend Hindernisse und Fallen hinweggesetzt. »Miss Hexham, Sie dürfen es nicht als erwiesen ansehen, dass es sich um Ihren Vater handelt. Bisher haben wir nur sehr wenige Anhaltspunkte. Wir wissen lediglich, dass wir eine männliche Leiche gefunden haben, die ungefähr dem Alter Ihres Vaters entspricht und vermutlich am 15. oder 16. Juni 1995 gestorben ist, beziehungsweise kurz zuvor oder danach.«
»Bitte, nennen Sie mich Selina«, sagte sie. Es klang ganz und gar nicht niedergeschlagen.
»Vivien«, ergänzte Vivien.
»Wir möchten gern, dass eine von Ihnen uns eine DNA-Probe zur Verfügung stellt. Es geht ganz einfach: Man nimmt einen Abstrich aus Ihrer Mundhöhle. Das muss nur eine von Ihnen tun.«
»Und dann weiß man es sofort?«
»Leider nein, Vivien. Es wird ein paar Tage dauern. Außerdem wüssten wir gern, wie der Zahnarzt Ihres
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