Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
Vaters hieß, falls Sie uns das sagen können. Elf Jahre sind eine ziemlich lange Zeit, und vielleicht wissen Sie es gar nicht.«
»Doch, tun wir«, rief Selina eifrig. »Sie lebt immer noch in Barnes. Dort wohnen wir, in Barnes. Das habe ich Ihnen noch nicht gesagt, glaube ich. Wir gehen immer noch zu ihr.«
Mit kräftiger gerader Schrift notierte sie Name und Adresse der Zahnärztin. Ein junger Mann mit rosigem Gesicht brachte eine Kanne Tee und drei Tassen. Bal Bhattacharyas Nachfolger hieß Adam Thayer und benahm sich absolut respektvoll. Trotzdem musterte er beide Mädchen mit begehrlichen Blicken, während er den Tee einschenkte. Wexford überlegte sich, dass er gut daran täte, Thayer beizubringen, seine Blicke im Zaum zu halten. Weder Selina noch Vivien nahm Milch. Wie er festgestellt hatte, hatten sich offensichtlich fast alle jungen Leute von dieser Gewohnheit verabschiedet. Vivien beäugte die Flüssigkeit in ihrer Tasse, als würde sie aus reiner Höflichkeit trinken, auch wenn ihr Roibusch- oder Matetee sehr viel lieber gewesen wäre.
»Ich habe Ihnen ein Leseexemplar meines Buches mitgebracht«, sagte Selina. »Das heißt, falls Sie den Rest davon lesen möchten. In der Sunday Times standen nur sehr kurze Ausschnitte, auch wenn ich darüber natürlich überglücklich gewesen bin. Ich war richtig aus dem Häuschen. Es ist eine wunderbare Vorabwerbung für mein Buch.«
Sie reichte Wexford ein Leseexemplar von Spurlos verschwunden über den Schreibtisch. Er würde sich die Zeit dafür nehmen müssen, dachte er mit einem stummen Seufzer, auch wenn er sich deshalb die Nächte um die Ohren schlagen musste. »Zuvor würde ich Ihnen noch gern einige Fragen stellen«, sagte er. »Fühlen Sie sich dazu momentan in der Lage?«
»Natürlich«, rief Vivien. » Selbstverständlich. Wir wollen helfen, wo es nur geht.«
»Nun denn: Haben Sie trotz der langen Zeitspanne inzwischen eine bessere Vorstellung davon, womit sich Ihr Vater in seinem Arbeitszimmer beschäftigt hat? In den Buchauzügen streifen Sie dieses Thema ziemlich kurz, ohne zu einer Schlussfolgerung zu kommen. Steht vielleicht im restlichen Teil Ihres Buches mehr darüber?«
»Nein«, antwortete Selina, »nicht wirklich. Wir haben versucht, ihn zu finden, das heißt, wir haben versucht herauszufinden, was ihm zugestoßen ist – darum geht es hauptsächlich im Rest meines Buches. Wir haben mit allen Leuten geredet, die ihn gekannt haben, mit sämtlichen Lehrern an seiner Schule, das heißt, mit allen, die dazu bereit gewesen sind. Und das war nicht jeder. Wir haben uns sogar mit einigen seiner Schüler unterhalten. Sie waren in unserem Alter. Deshalb hat es ihnen nicht so viel ausgemacht, mit uns zu reden, wie es vielleicht bei Älteren der Fall gewesen wäre. Niemand konnte uns viel erzählen. Alle dachten nur, er würde für ein Aufbaustudium lernen. Steht alles in meinem Buch.«
»Ja, allerdings in dem Teil, den ich noch nicht gelesen habe.«
»Stimmt. Entschuldigung. In dem Fall hätte er an der Universität ein Magisterstudium belegen müssen, aber wir konnten ihn nirgends finden, obwohl wir jeder Spur in dieser Richtung nachgegangen sind. Eine Möglichkeit wäre gewesen, dass er so etwas beim Fernstudium gemacht hatte, also nur schriftlich, aber dafür haben wir keinerlei Belege gefunden. Zu Hause hatte er keinen Internetzugang, nur in der Schule, während wir doch wissen wollten, was er zu Hause gemacht hatte. Einer seiner Schüler aus der Kollegstufe meinte, vielleicht hätte er irgendwelche biologischen Experimente durchgeführt, aber dazu fehlten ihm die Räumlichkeiten. Außerdem, wissen Sie, braucht man für biologische Experimente Lebewesen. Vielleicht nur Pflanzen, aber auch die würden Platz und Wasser benötigen. Und davon war keine Spur zu finden. Papa war ein ausgesprochener Darwin-Fan und strikt gegen diese Fundamentalisten, die an das Buch Genesis glauben und daran, dass Gott in sechs Tagen die Welt erschaffen hat, und solchen Sch … – solchen Schrott.«
»Hat er vielleicht an etwas geschrieben?« Wexford beobachtete ihre Gesichter, aber daran ließ sich nur ablesen, dass beide Schwestern einen einzigen Wunsch hatten: Gewissheit. »Könnte er beispielsweise eine Biografie über Darwin geschrieben haben?«
»In dem Fall«, wandte Vivien ein, »hätte er Bücher über Darwin besitzen müssen, jede Menge sogar, frühere Biografien, aber die hatte er nicht. Er besaß nur ›Die Entstehung der Arten‹.«
»Er hatte eine
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