Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
dreist, von einem Penthouse zu sprechen, wie Karen einmal gelesen hatte – bot sich durch ein schäbiges Fenster ein prächtiger Blick auf Hügel und Wiesen und den Cheriton Forest. Auf dem Sofa saß Rashid Imran neben einem Zehnjährigen und spielte Monopoly mit seinem Sohn und einem kleinen Mädchen, das auf dem Boden kniete.
Karen konnte Kinder ganz allgemein nicht leiden. Als Grund dafür hatte man ihr erklärt, sie hätte Angst vor ihnen, aber in Wexfords Augen war diese Gleichgültigkeit von Vorteil. Dadurch konnte sie sich distanzieren und geriet nicht in emotionale Verwicklungen. Lyn dagegen liebte Kinder und wollte unbedingt heiraten, damit sie selbst ein halbes Dutzend haben konnte – na ja, wenigstens drei. Sie kauerte sich sofort neben die Kleine und fragte, ob sie mitspielen dürfe. Man merkte deutlich, dass Mrs. Imran kaum Englisch sprach, wenn überhaupt. Aber ihr Mann beherrschte die Sprache gut, und sein Sohn hatte es offensichtlich in der Schule gelernt. Die kleine Shamis konnte genug, um zu Lyn zu sagen: »Setzen, bitte. Du spielen.«
Als Adel Imran ihr genauso rudimentär antwortete, erkannte Karen, dass beide Kinder einen Schnellkurs in Englisch gemacht hatten. Sie wusste nicht recht, ob sie diese Methode für gut halten sollte oder nicht. Ein ehemaliger Innenminister hatte verkündet, es sei für alle Immigranten zwingend nötig, die englische Sprache zu beherrschen. Anfangs hatte sie dem zugestimmt, doch dann waren ihr Fragen gekommen. War diese Voraussetzung für eine Aufenthaltserlaubnis ein gefährlicher Eingriff in die Menschenrechte dieser Leute? Nach einem Blick auf Lyn, die bereits wunderbar mit den Kindern zurechtkam, sagte sie zu deren Vater: »Denken Sie, DC Fancourt könnte mit den Kindern eine Weile in ein anderes Zimmer gehen? Ich möchte Ihnen und Ihrer Frau etwas mitteilen.«
Sofort scheuchte Mrs. Imran den kleinen Jungen und das Mädchen auf. Lyn meinte: »Wir könnten doch das Monopoly mitnehmen, und ich spiele dann für euren Vater weiter. Wie wäre das?«
Beinahe wäre Karen, die sich manchmal ihres steinernen Herzens rühmte, der Anblick Shamis’ zu Herzen gegangen, wie sie zu Lyn hinaufsah und sie dann scheu bei der Hand nahm. Schönheit wusste Karen zu schätzen, und sie fand, sie habe noch selten ein hübscheres Kind gesehen. Shamis’ goldene Haut war einen Hauch dunkler als die ihres Bruders, und ihre Augen glänzten schwarz wie Basalt. Nachdem Mrs. Imran die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, begann für Karen die seit Langem schwierigste Konfrontation mit Bürgern. Sie wünschte sich sehnlichst, sie könnte sich ihr entziehen. Andererseits konnte sie verstehen, dass sie es tun musste, eine Frau, und nicht Barry Vine oder Damon.
»Mr. Imran, ich bin überzeugt, Sie und Ihre Frau wollen nicht gegen die Gesetze dieses Landes verstoßen, das inzwischen Ihre Heimat ist.« War das rassistisch? Sicher nicht. Karen wäre wohler gewesen, wenn sie sich an die Ehefrau dieses Mannes hätte wenden können. Sie hätte es auch als politisch korrekter empfunden, aber wie sinnvoll wäre das angesichts Mrs. Imrans beschränkter Englischkenntnisse gewesen? »Das Problem liegt darin, dass wir den Inhalt der Gesetze nicht immer kennen. Heutzutage gibt es in Großbritannien ein Gesetz, wonach die Beschneidung einer Frau oder eines Mädchens eine Straftat ist, sogar eine schwere Straftat. Wenn man sie ›schneidet‹, meine ich. Verstehen Sie?«
Die Frau sah sie reglos an, offensichtlich verstand sie nichts. Ihr Mann, der die Augen niedergeschlagen hatte, begann mit ihr in seiner Muttersprache zu reden, eine Sprache, die Karen zu ihrem Bedauern nicht identifizieren konnte. Gab es tatsächlich so etwas wie Somali?
Mrs. Imran nickte wortlos.
»Mr. Imran, verstehen Sie mich?«
»Natürlich. Aber warum zu uns kommen?«
»Mr. Imran, wir haben Grund zu der Annahme, dass Sie beabsichtigen, Ihre Ferien in Somalia zu verbringen und während Ihres Aufenthalts Shamis … äh, schneiden zu lassen.«
»O nein«, rief er sehr rasch. Zu rasch. »Wir machen nur Ferien.« Wieder flüsterte er mit seiner Frau. Diesmal schüttelte sie den Kopf.
»Nein, nein. Sind Ferien.« Sie stolperte ein wenig über dieses Wort. »Kinder sollen Tanten sehen.«
Beinahe hätte Karen sich geschüttelt, denn sie sah alte Frauen mit Rasierklingen, Glasscherben oder Steinen in den Händen vor sich. »Sie müssen mir glauben, ich möchte Ihnen keine Angst machen.« Klang das herablassend? »Trotzdem muss ich
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