Inspektor Jury laesst die Puppen tanzen
Flaschen und Karaffen. Diese Leute nahmen das Trinken recht ernst! »Whiskey? Wodka? Vielleicht einen Martini. Den mache ich nämlich sehr gut.«
Das kann ich mir denken. Melrose war völlig verblüfft über ihr Gebaren, das keinerlei Gefühle bezüglich des Mordes an ihrem Stiefsohn offenbarte. »Whiskey wäre schön.«
Eine Weile schenkte sie ein und maß ab, und Melrose lauschte dem sanften Klirren von Flaschen und Gläsern.
Sie brachte ihm seinen Drink und nahm dann so am anderen Ende des Sofas Platz, dass sie ihn gut sehen konnte. Sie nippte an ihrem Drink – Wodka oder Gin, vielleicht einer ihrer berühmten Martinis – und betrachtete ihn über das Kelchglas hinweg. Vielleicht eine Spur kokett? Er konnte es nicht beurteilen. Sie sagte: »Wir sind Ihnen sehr dankbar, dass Sie Billys Mietvertrag übernehmen. Das erspart uns eine Menge Ärger. Beim National Trust war man zwar sehr verständnisvoll, es muss aber doch jemand im Haus sein, bis die neuen Mieter so weit sind.«
»Aber sehr gern. Ich hatte sowieso schon immer mal vorgehabt, Lamb House zu besuchen, bin aber nie dazu gekommen. Wie es eben so ist.« Was auch immer das heißen mochte. »Es tut mir sehr leid wegen Ihres Sohnes. Es gibt ja schon genug, womit Sie fertig werden müssen.«
»Billy war eigentlich mein Stiefsohn. Damit will ich nicht sagen, dass ich keine Gefühle –« Sie sprach den Satz nicht zu Ende. »Wir waren dadurch natürlich beide am Boden zerstört.« Sie nippte an ihrem Drink.
Olivia war eindeutig nicht am Boden zerstört. Was natürlich nicht bedeutete, dass sie nichts fühlte. Er fragte sich nur, worin dieses Etwas bestand, das sie fühlte. Sie war schwer zu durchschauen. Ihr makelloses Gesicht, nur leicht geschminkt, zweifellos aufgrund dessen, was geschehen war, war undurchdringlich.
Er sagte: »Es ist sehr angenehm in Lamb House.« Und schob die vollkommen natürliche Frage gleich hinterher: »Warum wollte Ihr Stiefsohn dort wohnen?«
Sie lehnte sich gegen die Armstütze des Sofas. »Billy hat andere nie ins Vertrauen gezogen.«
Doch … jenen Priester, den Jury erwähnt hatte. Und wieso sollte die simple Erklärung seines Umzugs dorthin Vertrauenssache sein? Billy hatte schließlich keine Nacht- und Nebelaktion unternommen. Jeder wusste Bescheid, wo er war.
Melrose machte sich Gedanken über das Leben des Jungen und fragte sich gleich darauf, wieso er Billy als »Jungen« betrachtet hatte. Er hatte das Gefühl, es lag eine schwer lastende Trauer darin, in Billys Geschichte. »Vielleicht war Ihr Stiefsohn ja ein großer Bewunderer von Henry James.«
»Das nehme ich an. Kurt Brunner ist ein Bewunderer, das weiß ich.«
In dem Moment ging die Tür auf, und Roderick Maples kam herein. Melrose stand auf und ergriff seine ausgestreckte Hand, während Olivia die beiden unnötigerweise einander vorstellte.
»Ich sagte gerade zu Lord Ardry«, meinte sie, »dass er uns eine schwere Last von den Schultern genommen hat.«
»In der Tat.« Roderick nickte ihm knapp, wenn auch keineswegs unhöflich zu, als brächte er es nicht fertig, sein Gesicht mit einem Zeichen der Begrüßung zu beseelen. »Danke.« Roderick war der exaltiert unglaubwürdigen Art seiner Frau eher abhold. Er trat an den Getränketisch, schenkte sich einen Whiskey ein, kippte ihn mit einem Schluck und schenkte sich gleich noch einen ein.
Olivia beobachtete ihn kommentarlos.
Melrose nutzte die paar Augenblicke aus, um nach dem Gemälde von Soutine Ausschau zu halten. Ah, da hing es, gleich rechts vom Kamin.
Roderick ließ sich in einen Sessel fallen. Er war groß und trotz seines Alters auf eine etwas verhärmte Art gut aussehend.
»Lord Ardry wollte wissen, ob Billy ein Verehrer von Henry James war –«
In ihrer Stimme war bei der Erwähnung von Billy kein Zögern auszumachen.
»– und fragt sich, wieso er sich in Lamb House eingemietet hatte.«
Man könnte meinen, sie wollte sicherstellen, dass ihr Mann auch genau wusste, was während seiner Abwesenheit gesprochen worden war, um sich nicht zu verhaspeln und keinen Lapsus zu begehen.
Roderick dachte über Billys Mietverhältnis nach. »Ich weiß, dass er Bücher mochte, er liebte Bücher. Er bezeichnete sie als Trostspender.« Roderick machte eine Pause, um darüber nachzudenken. »Arbeiten Sie selbst denn wissenschaftlich über James?« Roderick schien vergessen zu haben, was Melrose zu ihnen geführt hatte.
»Absolut nicht.« Verflixt! War er denn nicht angeblich dabei, ein Buch über Henry zu
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