Inspektor Jury laesst die Puppen tanzen
eine Sternschnuppe fallen und zu meinen Füßen niedersinken.
Merkwürdig, aber ich hörte den Schuss überhaupt nicht. In meinem Kopf war nichts als ein Trommelwirbel.
Die Wachen eilten herbei, blieben aber abrupt stehen, als sie mich sahen. »Der Junge hatte keine Genehmigung für den Zug«, herrschte ich sie an und auch die Eltern, die zu entsetzt waren, Einspruch zu erheben. Was hätte es jetzt auch noch genützt? Er war tot, und ich …
An der Stelle endet es.« Oswald Maples klappte die Mappe zu.
»Mein Gott! Wer war dieser Mensch?«
»Sein Name war Röhm. Obergruppenführer Werner Röhm, Generalleutnant der SS.«
»Ein hochrangiger SS-Offizier. Die anderen Männer, die Wachen, die Polizei – da war also niemand, der sich einmischte«, sagte Jury.
»Genau. Die SS hatte Carte blanche. Die konnten beinahe alles machen, was ihnen passte.«
Jury überlegte einen Augenblick. »Wäre das in den Nachrichten gemeldet worden?«
Maples lachte. »In den Zeitungen? Die Erschießung eines jüdischen Kindes? Wahrscheinlich nicht. Das kam sicher täglich vor. Natürlich nicht mit dieser bestimmten Absicht, aber es wurden doch viele Kinder niedergeschossen, während ihre Eltern tatenlos zusehen mussten. Nein, das wäre denen keine Meldung wert gewesen. Wir haben danach gesucht, konnten aber nichts finden.«
»Aber der erste Zwischenfall, der Junge namens Hans –?«
»Der Sohn des Generals. Einer davon, er hatte ja zwei Söhne. Das fand ich dann doch heraus. Ja, das stimmt. Ein Jude namens Aaron Stein richtete von gegenüber aus seinem Wohnblock eine Schrotflinte auf eine Gruppe deutscher Soldaten. Er tötete einen der Soldaten, erschoss dabei aber versehentlich auch einen kleinen Jungen. Hans Röhm. Den Sohn des Generals.«
»Was geschah mit dem Schützen?«
»Das dürfte nicht schwer zu erraten sein: Er wurde erschossen. Als die SS sich in Bewegung setzte, um die Familie des Mannes zusammenzutreiben, stellte sich heraus, dass sie schon alle tot waren. Ermordet natürlich, selbstverständlich. Herr Stein wusste also, dass er sie nicht mehr gefährdete.«
»Und die anderen Leute, die in dem Gebäude wohnten?«
»Ah, ja. Das hätte Herr Stein sich vorher überlegen sollen. Sämtliche Bewohner wurden zusammengetrieben. Man tat zunächst so, als wollte man ein Geständnis abwarten, wer die Schüsse abgegeben hatte, aber es kam natürlich keines. Der Mann war ja tot. Die Offiziere wussten, dass der Schütze in der Lindenstraße 21 tot auf der Erde lag. Da offensichtlich niemand ein Geständnis ablegte, erschossen sie alle. Erschossen sie an Ort und Stelle. Es war wahrscheinlich eine Gnade für Herrn Stein, dass er das nicht mit ansehen musste. Er hätte es sich überlegen sollen, da aber seine gesamte Familie dahingemetzelt war, konnte er wohl nicht mehr klar denken.«
»Derart massive Vergeltung! Menschen, die nicht bloß unschuldig waren, sondern auch gar nichts mit diesem Stein zu tun hatten.«
»Es gab nur ein verbindendes Element: Alle waren Juden.«
Jury trank seinen Whiskey vollends aus. Nachdenklich meinte er dann: »Diese Sache, dass Röhm sich fragte, ob es vielleicht ein Unfall war.« Er deutete mit dem Finger auf die Akte. Maples schlug sie erneut auf und las:
»›Er beteuerte immer wieder, er habe nicht die Absicht gehabt, den Jungen zu erschießen …‹«
Eine Weile schwiegen sie. Dann sagte Jury: »Und wenn er es doch beabsichtigt hatte? Wenn dieser Stein doch vorhatte, Hans Röhm zu erschießen. Das würde bedeuten, dass General Röhm davor etwas getan haben musste. Irgendwo ist hier die Rede von Rache. Vergeltung gegen sich selbst, meine ich.«
Maples lachte unsicher. »Lieber Gott, das geht weiter und weiter, nicht? Röhm begeht ein Verbrechen gegen Stein, Stein erschießt Röhms Sohn, Röhm erschießt das Kind auf dem Bahnhof.«
»Ja, es geht immer weiter. Rache findet nie ein Ende. Es ist alles miteinander verbunden. Wer war dieser Aaron Stein, und wieso erschoss er den Sohn des Generals? Vorausgesetzt, das war wirklich sein Ziel.«
Maples schüttelte den Kopf. »Wir wissen es nicht. Außer diesem Bericht gibt es nichts, was besagt, dass so eine Erschießung stattfand. Hans Röhm wird als Opfer nicht ausdrücklich genannt. Nur die SS-Truppe.«
»Dieser alptraumartige Zweig des Heeres.«
»Ja, die Schutzstaffel. Himmlers Burschen. Mit dem Totenkopf auf dem Helm, Runen am Kragen, Mordlust im Sinn. Ein SS-Offizier war es, der Steins Familie ermordete. Ich würde sagen, das war
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