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Inspektor Jury laesst die Puppen tanzen

Inspektor Jury laesst die Puppen tanzen

Titel: Inspektor Jury laesst die Puppen tanzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matha Grimes
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wieder in die Tasche. »Also, dieses Dokument«, sagte er, auf die Akte deutend. »Das habe ich in einer von den Hütten gefunden, als wir dreiundvierzig abzogen. Ich weiß nicht, das wusste damals keiner, wie es dorthin gelangt war. Unerklärlich ist es jedoch nicht. Was ich hingegen weniger verstehen kann, ist, dass es nirgendwo vermisst wurde. Der Inhalt ist nämlich recht interessant. Es geht um den Kindertransport.«
    Er überreichte Jury die Akte, der sie aufschlug und die Seiten darin betrachtete. Dann hob er den Blick. »Ich kann kein Deutsch.« Er lächelte.
    »Ach je! Ist die Übersetzung denn nicht dabei? Da war doch – ich hatte sie von einer Sekretärin auf Englisch tippen lassen – tut mir leid. Ich habe mich an die Sprache so gewöhnt im Alltag. Hier, ich lese es Ihnen vor.«
    Jury reichte ihm die Akte über den Tisch.
    Sir Oswald rückte seine Brille zurecht und sagte: »Ich habe das hier schon so oft gelesen, dass ich es fast auswendig kann.« Er räusperte sich leise.
    Jury fand ihn so gemessen in all seinen Bewegungen, ein sparsamer Mensch in dieser Hinsicht. Doch wenn er, Jury, bei jeder Bewegung auch so von Schmerzen geplagt wäre, würde er mit Bewegungen ebenfalls haushalten.
    »Es beginnt«, sagte Oswald, »gleich in medias res. Ich habe keine Ahnung, was aus den ersten paar Seiten geworden ist. Ich nahm an, es könnte auch länger gewesen sein, aber wer weiß?«
    »Sprechen Sie jetzt über Bletchley Park? Über die Dechiffrierabteilung?«
    »Über Enigma, ja. Aber das hier war nicht verschlüsselt. Es beginnt so:

    … warum in die Freiheit geschafft werden? Wieso gerettet werden? Hans wurde nicht gerettet. Er wurde nicht fortgebracht in ein besseres, freundlicheres Leben. Ich ging bis zum Ende des Bahnsteigs und wieder zurück. Ich sah mir eingehend ihre Gesichter an, manche waren nicht älter als zwei oder drei, andere fünfzehn oder sechzehn, und viele waren in Hans’ Alter.
    Und dann blieb ich ganz reglos stehen und sah die Kinder an, die sich gegen die offenen Fenster eines Wagens pressten. Vierzig oder fünfzig von ihnen drängten sich dort, ein paar weinten nach ihren Eltern, die meisten aber trugen eine Art staunendes Interesse an dem Geschehen zur Schau, viele lachten, viele freuten sich. Schließlich war es ja eine Reise, ein Abenteuer. Einer von ihnen, ein Junge von acht oder neun, war besonders aufgeregt, als bekäme er gleich zum ersten Mal einen Geschmack von Freiheit.
    Freiheit: Ich sah die Ironie darin. Es gibt keine Freiheit, wollte ich ihm sagen. Wir sind ja gefesselt, jeder von uns, wenn auch durch nichts anderes als durch unsere Bindungen.
    Natürlich hatte der Jude nicht die Absicht gehabt, ihn zu töten. (Er beteuerte immer wieder, er habe nicht die Absicht gehabt, den Jungen zu erschießen, und vielleicht stimmt das auch, aber selbst da frage ich mich.) Es war wahnsinnig, auf die SS-Männer zu schießen, wo das Grüppchen von Schulkindern so dicht danebenstand. Vor meinem inneren Auge beobachte ich sie, habe sie immer wieder und wieder beobachtet.
    Der Zug blieb noch einige Minuten stehen, während ich diesen Wagen voller Kinder anschaute und besonders diesen neunjährigen Jungen, dessen Gesicht blass wurde, als er sah, welcher Schmerz seine Mutter und seinen Vater beim Abschied überkam. Gerade als der Zug sich in Bewegung setzte, griff ich hinauf und zog ihn aus dem Kindergrüppchen heraus. Der Junge war so erschrocken, dass er schweigend umhersah, verdattert wie einer, der blindlings einen Ausweg sucht. Die anderen riefen und schrien nach ihm, winkten und lehnten sich weit zum Fenster heraus, als der Zug aus dem Bahnhof fuhr.
    Ich begleitete den Jungen zu der Reihe von Eltern zurück, die sich hinter einer Absperrung versammelt hatten und sich alle nach ihren Kindern reckten, während der Zug abfuhr. Sie weinten und riefen ihnen nach. Das geht mir immer noch endlos im Kopf herum, als ob das Leben nichts anderes wäre als dieses Weinen und Rufen.
    Es war nicht schwer, seine Eltern zu finden. Sie waren äußerst überrascht, ihn hier zu sehen und nicht im Zug, waren sichtbar hin und her gerissen zwischen Erleichterung und tiefer Sorge. Er hieß Josef. Das war der Name, mit dem sie ihn riefen – ich beobachtete ihre Gesichter, ihre bleichen, erschöpften Gesichter und sah Licht und Farbe allmählich daraus weichen. Was geschah da? Sie konnten es nicht begreifen – wie auch? –, als ich meine Luger aus dem Halfter nahm und ihm in den Kopf schoss. Ich sah ihn wie

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