Inspektor Jury laesst die Puppen tanzen
bisschen verzogen. Ich glaube, er war es gewöhnt, dass man ihm alles Mögliche abnahm. Vielleicht hatte er deshalb Mr. Brunner – das war sein Assistent, obwohl ich auch nicht weiß, wobei der assistieren musste –, jedenfalls hat er mit dem die meiste Zeit verbracht. So ein reicher, gut aussehender Mann wie Billy Maples, womöglich ein ziemlicher Londoner Playboy – man hätte gedacht, dem laufen die Freundinnen scharenweise hinterher, aber ich hab nie eine gesehen.«
Sie ließ sich nicht weiter darüber aus, vielleicht weil es sich so missbilligend anhörte, und so griff Melrose das Thema James wieder auf. »Hätte es sein können, dass er selbst etwas schrieb, hm, sagen wir, ein Buch über Henry James?«
»Ach, das glaub ich eher nicht, Sir. Ich hab nie gesehen, dass er was anderes geschrieben hätte als ab und zu mal einen Brief. Falls er an einem so großen Projekt wie einem Buch arbeitete, hätte er es doch wohl erwähnt.«
Die Standuhr schlug zur halben Stunde.
»Ach, du liebe Güte, schon halb sieben vorbei. Ich muss gehen.« Sie stand auf, und Melrose erhob sich ebenfalls, um ihr in den Mantel zu helfen. »Das war ein ausgezeichneter Teeimbiss, Mrs. Jessup. Vielen Dank.«
»Ach, schon gut. Und zum Abendessen nehmen Sie einfach das Kotelett aus der Marinade und schieben es etwa eine halbe Stunde in den Ofen. Schauen Sie aber nach zwanzig Minuten kurz rein, der Ofen hat nämlich manchmal seine Mucken.«
Er lächelte. »Mir kann er nichts vormachen.«
Sie lachte fröhlich und ging hinaus.
Melrose schlenderte umher.
Er schlenderte ins Nachbarzimmer, wo eine stattliche Reihe von Porträts hing, auf denen James in den verschiedenen Stadien seines Lebens zu sehen war. Alle stammten von John Singer Sargent und waren alle wundervoll, besonders die letzten und zu Recht berühmten. Sargent hatte die intellektuelle Kraft dieses Menschen eingefangen. Schon allein beim Anschauen fühlte Melrose sich in Scharfsinn und Intelligenz gebadet. Die für James typischen wachen Augen, seine gewölbte Stirn. Melrose befühlte seine eigene Stirn, um zu sehen, ob eine Ähnlichkeit bestand. Wohl eher nicht, dachte er.
Er setzte sich in einen Windsor-Sessel und starrte auf das Bild? Was hatte diesen jungen Mann hierhergeführt? Komm schon, du hast ihn doch jeden Tag gesehen. War es so etwas wie eine spirituelle Suche, und wenn ja, hätte ich nicht gedacht, dass für diese Art von Pilgerfahrt du ausgewählt werden würdest. Aber vielleicht war Melrose diesbezüglich völlig auf dem Holzweg.
Er seufzte tief auf. Er war es leid, sich die Dinge selbst zusammenzureimen. Da verkneifst du dir jetzt ein Lachen, lieber J. was?
Er saß im Sessel, betrachtete Henry James mit zusammengekniffenen Augen und kaute an seinem Mundwinkel herum. Aber natürlich …
Ein spiritueller Führer? Henry James selbst war in die Anglikanische Kirche eingetreten! Aber die Sache mit der Kirche einmal beiseitegelassen, nur um der Beweisführung willen: Wieso solltest du einen spirituellen Führer abgeben?
Melrose blieb noch ein paar Minuten sitzen und schlug dann, weil er die rhetorischen Fragen satthatte, auf die Armlehne, stand auf und ging zur Treppe, wo sein Mantel über dem Geländer hing.
Er betrachtete seinen Koffer und beschloss, ihn später auszupacken. Jetzt wollte er erst einmal einen Spaziergang über die kopfsteingepflasterten Straßen von Rye machen.
23
Es war eine verträumte kleine Stadt mit gepflasterten Straßen, die nicht breiter als Gassen waren und nun regennass im geisterhaften Licht der einbrechenden Dämmerung glänzten. Inzwischen wurden die Tage wieder etwas länger.
Wenn er nun schon einmal hier an der Küste von Sussex war, sollte er etwas Touristisches unternehmen, einen Spaziergang zurück in die Geschichte vielleicht: die Schlacht von Hastings und die Ereignisse des Jahres 1066. Bei genauerer Überlegung allerdings stellte sich diese Idee als weniger gut heraus: Wenn er mit dem allem anfing, würde er womöglich seinen Kopf überladen, und es bestand sowieso schon die Gefahr, dass ihm wegen Henry James sämtliche Sicherungen durchbrannten. Denn wenn es einen gab, der einen elektrischen Kurzschluss verursachen könnte, dann dieser James.
Melrose ging die Mermaid Street entlang zur gleichnamigen Schänke und besah sich das Leben, das sich hinter erleuchteten Fenstern abspielte, ein Leben, das durch die Butzenglasscheiben nur verschwommen und undeutlich sichtbar war.
Die Mermaid Tavern, inzwischen recht vornehm
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