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Inspektor Jury spielt Domino

Inspektor Jury spielt Domino

Titel: Inspektor Jury spielt Domino Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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House aufgenommen worden; er erkannte den Hof mit den Ställen. Er nahm an, daß es sich um Lily Siddons Mutter handelte.
    «Das ist meine Mutter.» Ihre Stimme, die seine Vermutung bestätigte, kam von hinten. «Sie lebt nicht mehr. Sie ist jung gestorben.» Jury drehte sich um. «Die Herzogin von Malfi?»
    «Was?»
    «Ich dachte, Sie würden aus dem Stück zitieren.»
    Sie legte den Kopf zur Seite, und in ihren bernsteinfarbenen Augen fing sich das Licht des Feuers. «Kenn ich nicht.»
    «Ihr Bruder sagt das. Der Bruder der Herzogin. ‹Bedeckt ihr Gesicht; sie ist jung gestorben.›» Vorsichtig stellte Jury das Foto zurück, als könne er das Leben der Frau in Gefahr bringen. «Er war verrückt, ihr Bruder.» Er fühlte sich seltsam beklommen; ein Gefühl der Angst schnürte ihm die Kehle zu; er konnte es sich nicht erklären.
    «Sie meinen wie Julian Crael?» Sie kreuzte die Arme über der Brust, eine unwillkürliche, typisch weibliche Abwehrgeste.
    «Julian Crael?»
    «Er war schon immer ziemlich seltsam.» Lily setzte sich auf ein kleines, chintzbezogenes Sofa. «Möchten Sie einen Kaffee?»
    Jury schüttelte den Kopf. «Inwiefern?»
    Sie zuckte die Achseln, als wolle sie Julian Crael abschütteln. Dann sagte sie: «Hat er sie umgebracht?»
    Die Frage überraschte Jury genauso wie ihr unbeteiligter Ton. «Warum fragen Sie das?»
    «Weil er dazu fähig wäre.»
    Jury lächelte. «Dazu fähig sind wir alle. Die Umstände müssen nur entsprechend sein.»
    Sie schüttelte den Kopf. «Das glaub ich nicht.» Kühl blickte sie ihn aus ihren Katzenaugen an. «Könnten Sie? Ich meine, jemanden umbringen?»
    «Ja. Ich denke schon. Aber Sie sprachen von Julian.»
    Sie strich ihr helles Haar, das von zwei Schildpattkämmen gehalten wurde, nach hinten über die Schultern zurück. «Ich hab ihn noch nie gemocht. Sie wissen bestimmt, daß ich ziemlich lange bei ihnen gewohnt habe; eigentlich meine ganze Kindheit. Bis meine Mutter … starb.» Ihre Augen wanderten von seinem Gesicht zu dem kleinen runden Chippendale-Tischchen, auf dem die Fotos standen.
    «Colonel Crael hat’s mir erzählt. Er hat Sie sehr gern.»
    «Er ist auch der einzige, der in Ordnung ist. Ein Gentleman.»
    «Und Julian ist das nicht?»
    «Julian!» Mit einer kurzen Handbewegung tat sie diese Möglichkeit ab. «Ganz bestimmt nicht.»
    Jury fragte sich, ob nicht etwas anderes dahintersteckte, Gefühle, die nicht erwidert worden waren. Aber irgendwie bezweifelte er es. «Waren Sie nicht an dem Tag vor dem Mord bei den Craels zum Abendessen?»
    «Ja. Der Colonel hatte mich eingeladen. Zuerst dachte ich –» sie zögerte. «Zuerst dachte ich wirklich, sie –» Lily Siddons schien verwirrt oder auch nur in Gedanken versunken zu sein; sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als wolle sie den umherirrenden Schatten eines Gedankens verscheuchen.
    «Was?»
    «Hat Ihnen der Colonel nicht erzählt, daß sie seiner Pflegetochter wie aus dem Gesicht geschnitten war? Der, die vor fünfzehn Jahren verschwunden ist. Hat er nichts von Dillys erzählt?»
    «Erzählen Sie.»
    Lily blickte auf die gefalteten, in ihrem Schoß ruhenden Hände und wirkte, als läse sie eine Geschichte aus einem Buch ab. «Sie haben sie nach dem Tod ihrer Eltern bei sich aufgenommen. Als sie acht oder neun Jahre alt war. Ich war damals noch ein Baby. Obwohl uns fünf Jahre voneinander trennten, wuchsen wir trotzdem zusammen auf. Es machte ihr Spaß, mich rumzukommandieren. Ich war für sie immer nur die Tochter der Köchin. Bei unsern Spielen war ich die Küchenmagd und sie die Prinzessin. Lady Margaret hat sie maßlos verwöhnt. Natürlich gingen wir auch auf verschiedene Schulen. Dillys und Julian gingen aufs Gymnasium, ich ging auf die Hauptschule. Das war später, als wir etwas älter waren. Ich könne machen, was ich wolle, sagte sie immer, ich würde doch nie … als ob das meine Absicht gewesen wäre …»
    «Und was dachten Sie, als Sie Gemma Temple sahen?»
    «Ich hatte Angst, sie würde zurückkommen.» Sie blickte ihm in die Augen. «Wenn Sie jemanden mit einem Motiv suchen, ja, ich hätte eines gehabt. Nachdem mein Vater uns verlassen hatte – meine Mutter und mich –, sind wir zu ihnen gezogen. Es war ja auch sehr anständig von den Craels, mich bei sich aufzunehmen. Aber Dillys war wie ein Baumstamm: Ich konnte sie nicht beiseite schieben und kam auch nicht an ihr vorbei.» Lily verstummte und starrte ins Feuer.
    «Als der Colonel sagte, sie sei eine entfernte Verwandte,

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