Inspektor Jury spielt Domino
mit der Fischpaste, ich hab sie noch nie vertragen. Oder vielleicht auch der Punsch. Das reinste Teufelszeug, was sie da im Old House zusammenbrauen. Ich hab mit kaum jemandem gesprochen. Der Colonel und Maud sind die einzigen, die mit Sicherheit keinen Anschlag auf mich geplant hatten. Sie wußten, daß Gemma mein Kostüm trug.»
Sie würden also aus dem Kreis der Verdächtigen ausscheiden, falls der Täter Lily und nicht Gemma Temple hatte beseitigen wollen.
«Wenn ich ihr nicht mein Kostüm geliehen hätte, wäre sie vielleicht … ich fühle mich irgendwie schuldig.»
Jury zog sein Notizbuch hervor. «Sie haben Inspektor Harkins gesagt, Sie seien Viertel nach zehn zu Hause gewesen.»
«Ja, richtig. Maud blieb noch eine Weile bei mir. Um sicherzugehen, daß ich keine Lebensmittelvergiftung hatte. Dann ist sie gegangen. Ich saß noch ein bißchen im Bademantel rum und hab gelesen, ungefähr bis elf Uhr.»
«Adrian Rees hat kurz darauf Gemma Temple die Grape Lane herunterkommen sehen, ungefähr um Viertel nach elf, kurz bevor der ‹Fuchs› zumachte. In der Nähe der Engelsstiege.»
Lily starrte in das Feuer und nickte. «Ich weiß.»
«Ist sie hier gewesen?»
Ihr Kopf fuhr herum. «Hier? Warum sollte sie hier gewesen sein?»
Jury gab keine Antwort. Er musterte sie mit ausdruckslosem Gesicht. «Irgendwo muß sie gewesen sein. Wir wissen, wann sie aus dem Gasthof weggegangen ist – zehn nach zehn, sagt Kitty Meechem –, und wir wissen, wann Rees sie gesehen hat. Aber wo war sie in der Zwischenzeit? Auf dem Weg zum Old House war sie offensichtlich nicht.»
«Wie kommen Sie darauf?»
«Weil sie die Engelsstiege hochging.»
«Sie wird schließlich auch benutzt.»
«Aber doch nicht im Winter? Und nicht, wenn ein Warnschild dranhängt. Sie muß sich mit jemandem getroffen haben.» Jury wartete, aber Lily äußerte sich nicht dazu. «Kitty Meechem kam also kurz nach Feierabend bei Ihnen vorbei. Das war gegen halb zwölf oder etwas früher. Fünf vor halb zwölf, sagte sie.»
Lily ließ den Kopf auf dem Chintzbezug des Sofas hin- und herrollen und meinte mit matter Stimme: «So genau weiß ich das nicht mehr. Es wird wohl stimmen. Ich hab nicht auf die Uhr geschaut.»
«Es ist aber sehr wichtig. Sie hätten sich schon mit Lichtgeschwindigkeit bewegen müssen, um die Strecke von hier bis zur Engelsstiege und wieder zurück in zehn Minuten zu schaffen.»
Sie schaute ihn an, und ihre Augen verdunkelten sich, bis sie beinahe kornblumenblau waren. «Sie glauben mir nicht, stimmt’s? Sie glauben nicht, daß jemand versucht hat, mich umzubringen?»
«Darum geht es nicht. Ich nehme Ihnen ab, daß Sie es glauben. Aber welches Motiv käme denn in Frage? Geld? Rache? Eifersucht?»
«Geld scheidet aus. Und soviel ich weiß, hab ich auch niemandem was getan. Eifersucht – worauf?»
«Männer. Fangen wir doch mal damit an.»
«Sie meinen, ein eifersüchtiger Liebhaber oder so was Ähnliches?» Sie lachte, es klang aber nicht sehr glücklich. «In Rackmoor ist das höchst unwahrscheinlich.»
«Halten Sie es für möglich, daß der Colonel schon daran gedacht hat, Sie und Julian könnten …» Ihr Gesicht überzog sich mit einer brennenden Röte, und er verstummte.
«Julian? Ich und Julian ? Das ist doch albern! Ein Crael heiratet nicht die Tochter der Köchin.»
«Was ist mit Ihrem Vater passiert, Lily?»
«Ich war ein kleines Kind, als er fortging. Ich kann mich kaum noch an ihn erinnern.»
Sie lehnte sich zu dem kleinen Tischchen hinüber und nahm die Kristallkugel von dem Samtpolster. «Ein netter Zeitvertreib. Percy Blythe hat sie mir geschenkt. Im Sommer nehm ich sie mit ins Café und tu so, als könnte ich die Zukunft voraussagen, als würde ich darin etwas sehen. Die Touristen finden das ganz toll. Zeigen Sie mal Ihre Hand!» Jury streckte seine rechte Hand aus; sie ergriff sie und hielt sie fest. «Sie haben einen breiten Handteller, das heißt, Sie sind sehr großzügig. Und einen langen Daumen – das bedeutet Durchsetzungsvermögen. Gerade Finger – ein angenehmes Wesen. Eine sehr gute Hand!» Sie ließ sie wieder fallen, als wäre sie alles andere als gut, und ihre Augen wanderten zu dem Chippendale-Tischchen mit den Fotos. Sie griff nach dem Bild mit der Frau auf dem Pier.
«Sie haben Ihre Mutter wohl sehr gemocht?»
«Ja.»
«Es tut mir leid, darüber zu sprechen; es muß für Sie sehr schmerzlich sein …» Er spürte, daß er eine offene Wunde berührte, daß er den Schmerz in kleinen
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