Inspektor Jury spielt Katz und Maus
Immer neue Mittel und Wege fielen ihr ein, wie der Eindringling, der nie kam (und nie kommen würde), sich Einlaß verschaffen konnte. Außerdem wähnte sie sich von Füßen verfolgt, wenn sie hinausging, und zwar seit dem Zweiten Weltkrieg.
Heute hatte sie ihre stattliche, propere Figur in marineblauen Batist gewandet und erstattete ihm atemlos Bericht über die letzten paar Tage. Sie preßte eine rundliche Hand an ihren wogenden Busen, als sei sie auf der Flucht vor ihrem schattenhaften Verfolger tatsächlich lange Straßen entlanggerannt. Jury lehnte an der Wand, hörte geduldig zu und nickte und nickte.
«Recht so, daß Sie auf die ein Auge haben. Sie ist ja noch das reinste Kind. So unschuldig, wenn Sie verstehen, was ich meine, und zu jeder Tages- und Nachtzeit unterwegs, und Sie wissen ja, daß ich abends nicht ausgehe – ich kann ihr leider nicht hinterherlaufen, um dafür zu sorgen, daß ihr nichts passiert …»
«Ich habe auch kaum erwartet, daß Sie das tun, Mrs. Wasserman.» Bekümmert breitete sie die Arme aus, als entschuldige sie sich, daß sie der gestellten Aufgabe, Carole-anne zu bewachen, nicht gerecht wurde. «Ich glaube aber auch nicht, daß Carole-anne auf dumme Gedanken kommt.»
«Oh!» Mrs. Wasserman schloß schmerzgepeinigt die Augen. «An so etwas habe ich doch gar nicht gedacht!»
Nein, aber das sollten Sie vielleicht einmal. Er verbarg ein Lächeln.
«Und dann ihre Freunde – sie sagt, es sind Cousins. Aber so eine große Familie? Vierundzwanzig ist sie, sagt sie–»
In drei Tagen um zwei Jahre gealtert. Na, so was.
«– aber sie sieht doch wahrhaftig nicht älter als achtzehn oder neunzehn aus. Und was sie anzieht, Mr. Jury.»
Traurig schüttelte Mrs. Wasserman den Kopf. «Was machen Sie mit jemandem, der Pullover bis hier unten anhat und so enge Hosen? Die sind ja hauteng.»
Da fiele mir schon was ein, dachte Jury. «Deshalb fände ich es ja gut, wenn Sie, wissen Sie, ab und zu mit ihr einen Tee trinken, ein bißchen mit ihr reden …» Jury zuckte mit den Schultern.
Mrs. Wasserman bekam einen entschlossenen Blick. Selbst ihr Haar sah aus, als habe sie es beim Nachdenken über Carole-anne Palutski ganz besonders streng zurückgekämmt. «Sie war schon ein paarmal zum Tee oder Kaffee bei mir. Und sie hat sich freundlicherweise sogar revanchiert, obwohl es mir schwerfällt, drei Treppen hochzulaufen. Ich sage nichts gegen das Kind; eine freundliche Seele. Nur – ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Sie behauptet, sie geht ins Kino. Jeden Abend, Mr. Jury? So viele Filme gibt’s in Islington nicht. Sie glauben doch nicht, daß sie die U-Bahn ins West End nimmt …?»
Und so ging’s weiter, bis Jury sie unterbrach und ihr den Strauß Rosen gab, den er draußen vor der U-Bahn-Station Angel gekauft hatte. «Sie machen das schon ganz gut, Mrs. Wasserman.»
Sie war überwältigt. «Für mich ?» Als ob sie noch nie im Leben Rosen gesehen hätte. Und dann plapperte sie ihre Dankeschöns in Tschechisch oder Litauisch – Jury fiel wieder ein, daß sie ja vier, fünf Sprachen konnte.
Französisch. Jury lächelte. «Tun Sie mir noch einen Gefallen?»
«Da fragen Sie noch? Nach allem, was Sie für mich getan haben? Worum geht’s denn?» fügte sie energisch hinzu, als habe er eine geheime Mission für sie.
«Sie sprechen Französisch.»
Sie zog ihre Augenbrauen hoch. Französisch sprach doch jeder!
«Das bißchen, das ich mal konnte, ist ziemlich eingerostet.» Und mit der Hand schon an der Tür: «Macht es Ihnen was aus, eine halbe Stunde oder vielleicht eine hierzubleiben? Ich hole Carole-anne runter.»
Er fragte, ob es ihr was «ausmache», und tat so, als glaube er, sie bewege sich frei wie ein Vogel nach Lust und Laune in Islington, London, überallhin.
«Natürlich macht es mir nichts aus, Mr. Jury. Aber warum Französisch?»
«Das erkläre ich Ihnen jetzt.» Er lächelte. «Und ich wette, Sie erkennen Carole-anne nicht wieder.»
Jury schon. Sie war zwar jetzt im Gegensatz zu vorher geradezu züchtig bekleidet, aber das nützte auch nichts. Ihre Figur hätte jede Ritterrüstung in eine Glasscheibe verwandelt. Carole-annes Kurven waren einfach nicht zu verbergen.
Sie warf sich an ihn, als sei er einer der vielen verloren geglaubten Väter, Brüder, Cousins, die sich während der letzten Wochen auf der Treppe gestaut hatten. «Super! Wie wär’s mit einem Küßchen?»
«Hier», sagte Jury, gab ihr einen direkt auf die weichen Lippen, und sie sank dahin.
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