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Inspektor Jury spielt Katz und Maus

Inspektor Jury spielt Katz und Maus

Titel: Inspektor Jury spielt Katz und Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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und opportunistisch. Eigentlich schlägt Carolyn am ehesten nach mir. Und vielleicht noch nach Miriam. Sie ist resolut. Zurückhaltend. Richtig stoisch. Ihre Mutter war auch so.»
    Er beugte sich zu Jury vor, als sei es ihm wichtig, daß der Superintendent es begriff. «Und an so etwas war ich einfach nicht gewöhnt. Die anderen Kinder waren durch und durch habgierig.»
    «Darf ich fragen, um wieviel Geld es geht?»
    «Dürfen Sie. Für Carolyn um eine Million.»
    Jury war verblüfft.
    «Und die anderen: pro Kopf hunderttausend. Wenn Carolyn tot ist …» Er sah weg. «Dann geht ihr Anteil an die anderen. Zu gleichen Teilen. Aber ihr Tod muß eindeutig bewiesen sein. Wenn sie nur gesetzlich für tot erklärt wird, geht ihr Erbe an verschiedene Wohltätigkeitsorganisationen.»
    Also warteten die anderen nicht nur auf den Tod des alten Mannes, sondern auch auf den Tod Carolyn Listers. «Dann war Carolyn bei Ihrem Sohn und Ihrer Tochter wohl nicht sonderlich beliebt. Und bei Ihrer Schwester auch nicht.»
    «Nein, nicht sonderlich.»
    «Aber Carolyn ist vor über sieben Jahren verschwunden. Bedeutet das nicht, daß sie tot ist?»
    «Ja. Aber jetzt sind Sie mit dem Foto aufgetaucht, nicht wahr? Das kleine Mädchen, das das Foto in seinem Besitz hatte, könnte Carolyn sein. Was Sie von der Familie erzählen, die sie gefunden hat, paßt zu den Tatsachen.»
    «Haben Sie noch mehr Fotos – von der Familie?»
    Lord Lister schüttelte den Kopf. «Von meiner Frau ziemlich viele. Und von den Kindern, als sie sehr klein waren.» Er sah zur Decke. «Ein Album, auf dem Dachboden vielleicht. Ich gehe nicht auf Dachböden, Superintendent. Wie meine Erinnerungen sind sie dunkel und voller Spinnweben. Ach, jetzt werde ich sentimental.» Er schwieg. «Geht’s dem Mädchen, das Sie getroffen haben, gut?»
    Jury dachte einen Moment nach. «Schwer zu sagen. Aber ich zweifle, ob es einem überhaupt sehr gutgehen kann, wenn man keine Erinnerung mehr an seine Kindheit hat.»
    «Wird sie gut versorgt?»
    «Ja.»
    «Gut.» Er zuckte mit den Schultern. «Leider gibt es keinen Beweis …» Er sah Jury an, dann die luxuriösen Samtvorhänge, die antiken Möbel, die jetzt in dem schwächer werdenden Sonnenlicht nicht mehr so prächtig aussahen. Er lächelte müde. «Den müssen Sie bringen, Superintendent.»
    «Sie trägt einen Ring, mit einem kleinen Amethyst. Hilft Ihnen das weiter?»
    Lord Lister stützte das Kinn in die Hände und überlegte. «Ein Amethyst. Ja, ihre Mutter könnte Carolyn einen geschenkt haben. Einen Geburtsstein. Ja, der würde als Beweis genügen, würde ich sagen.»
    Beweis? «Daß sie lebt?»
    «Oder tot ist.»
    Jury schauderte es. «Und wenn das Mädchen tatsächlich Carolyn ist. Und wenn ihr durch irgendeinen Zufall was passiert –»
    Lord Lister zog die Brauen hoch. «Unwahrscheinlich. Sie ist ja immer noch sehr jung.»
    «Sie war noch jünger, als man sie halbtot auf der Hampstead Heath liegenließ», sagte Jury bitter.
    Der alte Mann schwieg.
    Jury fuhr fort. «Warum soll nicht ein Teil des Vermögens an die Person gehen, die sie versorgt – nicht die Brindles. Ich meine die, bei der sie jetzt lebt.»
    «Ja, warum nicht?» Lord Lister war verwirrt.
    Jury wartete auf die Fragen. Wer kümmert sich um sie? Wo? … Aber es kamen keine. Jury steckte sein Notizbuch weg und dankte Lord Lister für seine Zeit.
    Der alte Mann stützte sich auf den Stock und erhob sich. «Zeit habe ich in Hülle und Fülle, Mr. Jury.»
    Jury lächelte. «Wenn sie einmal hierherkäme, würde sich ihr Gedächtnis rühren. Ihres vielleicht auch. Ich könnte mir vorstellen, da Sie ja so allein leben, wären Sie vielleicht froh, sie wiederzuhaben.»
    «Sie verstehen nicht, Superintendent. Ich mag keine Dachböden. Ich will die Vergangenheit nicht wiederhaben. Ich will Carolyn nicht.»
     
    Nachdem das Hausmädchen ihn hinausbegleitet hatte, blieb Jury ein paar Sekunden auf den Steinstufen stehen. Alles für nichts und wieder nichts. Er hatte Carrie Fleet keinen Deut geholfen. In einem gewissen Sinne hatte sie keine Vergangenheit. Eine Million Pfund hin oder her, sie war wahrlich betrogen worden. Er hätte selbst auf den Dachboden gehen, die Erinnerungen suchen, mitnehmen und ihr helfen sollen, sie zusammenzufügen.
    Aber wozu das alles, wenn sie am Ende doch keiner wollte?
    Er ging die Stufen hinunter und sah im Zurückblicken, wie eine Samtgardine heruntergelassen wurde.
    Der Vorhang war gefallen.

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