Inspektor Jury steht im Regen
wie er sich an sie erinnerte, schien sie taillenlose Kleider zu bevorzugen mit nichts als Falten, die ohne Sinn und Ziel in alle möglichen Richtungen schlabberten. Ihr Teint besaß jenen strahlenden Schimmer, den nur Clinique hervorzaubern kann.
Melrose hatte sie auf einer seiner gelegentlichen Reisen nach London wiedergetroffen. Er hatte sich mit Lucinda angefreundet, da er den Kummer einer jungen Frau ohne gesellschaftlichen Schliff und mit dem dünnbeinigen, langnasigen Aussehen eines Kranichs nachfühlen konnte. Sie trug Weiß, was sie lieber nicht hätte tun sollen, da es diese Assoziation nur noch verstärkte. Dennoch gelang es der armen Lucinda, den Wildpark mit ihren großen, feuchten braunen Augen in einen Regenwald zu verwandeln. Sie hatten beide in dem Hotel gewohnt, das er so gerne mochte. Der Tee im Brown’s war in ein Abendessen übergegangen, während dessen er ihnen von einem früheren Aufenthalt im selben Hotel erzählte, als gleichzeitig eine amerikanische Reisegruppe dort abgestiegen war. Die Geschichte von den Morden hatte alle fasziniert.
«Ich erinnere mich nur noch daran, daß Sie irgendwas mit der Polizei zu tun zu haben schienen …»
«Nun ja, ich kenne da ein, zwei Leute, sicher. Aber ich bin nicht gerade ein Experte auf dem Gebiet. Weshalb?»
Sie holte tief Luft. «Ich habe da einen Freund, wissen Sie, der sich anscheinend in was reingeritten hat. Ich dachte nur gerade, vielleicht könnten Sie das Problem lösen – ach, ich weiß nicht. Es ist furchtbar.»
«Was ist denn passiert? Wer ist dieser Freund?» Er bedauerte seine Frage ein wenig, denn sie wurde rot und blickte weg. Der «Freund» war zweifellos mehr als ein Freund, oder sie erhoffte sich das zumindest.
«Kein spezieller, wirklich nicht», sagte sie und sah überallhin, nur nicht ihm in die Augen. «Ein Freund der Familie. Wir kennen ihn schon seit ewigen Zeiten …» Ihr Flüstern verstummte. «Haben Sie von dieser Frau gelesen, die in Mayfair ermordet wurde? Es stand heute in der Zeitung.»
Von der hatte Scroggs recht anzüglich erzählt. «Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß Ihr Freund in diese Sache verwickelt ist? Das ist ja wirklich fürchterlich.»
Sie antwortete heftig und sehr eindringlich: «Ich fürchte sogar, daß sie ihn schon verhaftet haben oder sonst was. Er hat das Mädchen als letzter lebend gesehen. Oder zumindest behaupten sie das.» Sie zog ein Exemplar der gleichen Zeitung, aus der Scroggs ihnen vorgelesen hatte, aus ihrer großen Tasche.
«Scotland Yard, Morddezernat», sagte er, nachdem er den Bericht gelesen hatte. «Ist das Ihr Freund? Der, welcher ‹die Polizei bei den Ermittlungen unterstützt›, wie sie schreiben?»
Lucinda St. Clair nickte. «Ich dachte nur, weil Sie in diesen Dingen so erfahren sind …»
«Falls ich diesen Eindruck vermittelt habe, war das nicht meine Absicht.» Sorgfältig faltete er die Zeitung zusammen. Mit Sicherheit war er reichlich unklug gewesen, als er Richard Jury beim letzten Fall geholfen hatte. Wenn er sich daran erinnerte, lief es ihm noch jetzt kalt den Rücken hinunter. «Ich kann da wirklich nichts tun. Der Bürger darf sich einfach nicht in die Arbeit der Polizei einmischen, Lucinda.» Wie viele Male hatte Jurys Vorgesetzter ihm das schon erzählt.
Er erntete einen niedergeschlagenen Blick. «Mir fällt wirklich sonst niemand ein.»
«Er hat doch sicher einen Anwalt …»
Sie nickte und wirkte verstört.
«Ich nehme an, dieser Gentleman ist ein sehr guter Freund.»
Der traurige Blick verstärkte sich nur noch. «Ja.»
Melrose dachte einen Moment lang nach. Es konnte schließlich nichts schaden, wenn er Jury einmal anrief. «Sie müssen aber verstehen, daß ich mich da auf gar keinen Fall einmischen kann …»
«Oh, niemand möchte, daß Sie sich einmischen. Ich dachte mir nur, daß es Ihnen vielleicht gelingt, die Sache von einer anderen Warte aus zu betrachten.» Einen Moment lang verlor sie ihren Regenwaldblick. «Dann kommen Sie also?»
«Sie meinen nach Sussex?»
«Somers Abbas. Wir könnten zusammen hinfahren. Ich habe mein Auto …»
Melrose hob abwehrend die Hand. «Nein. Ich muß wirklich erst einmal darüber nachdenken.»
Lucinda lehnte sich zurück und wirkte noch elender als bei ihrem Eintreten. «Werden Sie mich denn dann anrufen?»
«Natürlich.» Melrose sah hinüber zum Tisch, wo Vivian, Trueblood und seine Tante immer noch saßen und die beiden Frauen so taten, als interessierten sie sich nicht für das, was sich vor
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