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Inspektor Jury steht im Regen

Inspektor Jury steht im Regen

Titel: Inspektor Jury steht im Regen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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herab und legte einen Schleier vor die schwarzen Buchen und Eiben, so daß sie eher wie Baumgespenster wirkten. Es erinnerte ihn wieder an die Straße nach Bristol und das Gehölz, in dem man Sheila Broome gefunden hatte. Er runzelte ein wenig die Stirn; irgend etwas irritierte ihn, etwas, das er über Sheila Broome gehört hatte, ein winziger Abdruck in seinem Gedächtnis wie eine dunkle, zarte Vogelspur. Eine Misteldrossel landete schaukelnd auf einem dünnen Zweig der nächststehenden Buche; kleine Schneeklumpen rieselten herunter.
    «Entschuldigen Sie, Superintendent, daß ich Sie habe warten lassen.»
    Es war David Marr. Jury hatte ihn nicht kommen hören und war, nachdem er die ganze Zeit auf die hypnotisierende Szenerie hinausgestarrt hatte, einen Moment lang verwirrt.
    Marr lächelte schwach. «Wir sind uns schon begegnet.»
    «Ich weiß.» Jury lächelte ebenfalls. «Ihr Wald hat mich wohl ein wenig verzaubert. Ich liebe Schnee.»
    Marr hob mit gespieltem Erstaunen die Augenbrauen. «Sie gehen wohl auch im Schnee spazieren, wie?»
    «Gelegentlich. Ich habe mich ein wenig verspätet wegen der Straßenverhältnisse.»
    Sie gingen durch eine Flügeltür auf der rechten Seite der Halle. «Sie müssen sich nicht entschuldigen. Wir haben Sie warten lassen. John ist eigentlich kein richtiger Butler. Eigentlich auch kein richtiger Verwalter, wenn man’s genau nimmt. Wir sind hier im Salon, bereit für Ihre Fragen.»
     
     
     
    D IE W INSLOWS WIRKTEN tatsächlich wie gestellt. Meisterhaft gestellt, gewissermaßen. Sie standen beziehungsweise saßen herum wie Schauspieler, die man gerade unterbrochen hatte und die sich jetzt mit ihren Drehbüchern beschäftigten. Marion Winslow, die ein Hauskleid aus schwarzem Samt trug, saß in einem Mahagonisessel mit hoher Lehne, der mehrere Meter von einem gewaltigen Marmorkamin entfernt stand. Ein Weihnachtsbaum, der bis auf die nicht brennenden elektrischen Kerzen und einen winzigen Engel aus Glasgespinst auf der Spitze nicht geschmückt war, stand ziemlich düster rechts neben dem Kaminsims. Edward Winslow stand rauchend vor dem Kamin. David Marr steuerte den lässigen Touch bei; genau den passenden Touch, um alles so überzeugend und improvisiert wirken zu lassen. Er schenkte für sich und Jury einen Whisky Soda ein. In der Haltung Marion Winslows und ihres Sohnes konnte man fast eine Nachahmung der Posen auf dem Porträt über dem Sims entdecken. Allerdings schienen sie sich dessen überhaupt nicht bewußt zu sein. Nachdem er Jury seinen Drink gereicht hatte, setzte sich David auf ein schönes Queen-Anne-Sofa und streckte die Beine von sich.
    Jury hatte vor, sich jeden einzeln vorzunehmen, aber noch nicht jetzt. Er wollte die Familienversammlung nicht sprengen; sie interessierte ihn.
    Einige Augenblicke lang unterhielten sie sich höflich über den Zustand der Straßen und die unerwarteten Schneefälle. Jury zündete sich eine Zigarette an und ließ den Blick über den runden, klauenfüßigen Tisch neben sich wandern, auf dem eine ganze Sammlung von Fotografien stand: kleine, große, schlicht oder aufwendig gerahmte. Als das Gespräch verebbte wie der langsamer herabschwebende Schnee, griff Jury nach einem kleinen, in getriebenem Silber gerahmten Bild des Kindes aus dem Gemälde über dem Treppenabsatz. Es war sehr hübsch, hatte große, feuchtglänzende Augen und hellblondes Haar. Edward Winslows kleine Schwester sah aus, wie Edward selber wohl in diesem Alter ausgesehen haben mochte, dachte Jury.
    Jury bemerkte, daß Marion Winslow ihn beobachtete und die Bewegung des Rahmens vom Tisch zum Stuhl und wieder zurück genau verfolgte. «Das war meine Tochter, Phoebe.» Ihre Stimme klang angenehm tief, aber so flach und ruhig und kalt wie die Winterlandschaft, durch die er heute gefahren war.
    «Ich habe von dem Unfall gehört. Es tut mir sehr leid.»
    Sie nickte flüchtig. Ihr Bruder war aufgestanden, um sein Glas wieder zu füllen. Er stand jetzt mit der Hand in der Jackentasche da und starrte abwesend ins Feuer. Dann drehte er sich um, als wolle er etwas sagen, doch Edward kam ihm zuvor: «Ich hatte Phoebe sehr gern.» Er seufzte. «Tja, wir alle.» Er trat noch näher an den Sessel seiner Mutter heran und legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie schien ins Leere zu starren.
    Jury machte sich Gedanken über das schwarze Kleid. Das Mädchen war vor über zwei Jahren verunglückt, sicherlich nicht lange her. Wie gestern, was die Trauer anging, aber ein bißchen zu lange, um

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