Intensity
Zwanzig Minuten vor fünf.
»Ich dachte schon, ich brauche eine Blaskapelle, um Sie zu wecken«, sagte er.
Sie hatte fast fünf Stunden geschlafen. Ihre Augen waren verklebt, und sie hatte einen säuerlichen Geschmack im Mund. Sie konnte ihre Körperausdünstungen riechen und kam sich schmierig vor.
Sie hatte sich im Schlaf nicht die Hosen naß gemacht und verspürte kurz ein absurdes Triumphgefühl, weil sie nicht auf diese noch tiefere Ebene der Erniedrigung hinabgesunken war. Dann wurde ihr klar, wie pathetisch es war, sich ihrer Kontinenz zu rühmen, und ihr graues Innere verdunkelte sich um eine oder zwei Stufen.
Vess trug schwarze Stiefel, eine Khakihose, einen schwarzen Gürtel und ein weißes T-Shirt.
Seine Arme waren muskulös. Gewaltig. Sie würde niemals erfolgreich gegen diese Arme ankämpfen können.
Er trug einen Teller zum Tisch. Er hatte ihr ein Sandwich gemacht. »Schinken und Käse mit Senf.«
Zwischen den Brotkanten ragte der Rand eines Salatblatts hervor. Er hatte zwei Spießchen mit Dillgurken neben das Sandwich gelegt.
»Ich habe keinen Hunger«, sagte Chyna, als Vess die Tüte Kartoffelchips auf den Tisch legte.
»Sie müssen essen«, sagte er.
Sie schaute aus dem Fenster auf den tiefen Garten, über den sich bald die Dämmerung senken würde.
»Wenn Sie nicht essen«, sagte er, »werde ich Sie irgendwann zwangsernähren müssen.« Er hob die Aspirinflasche hoch und schüttelte sie, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. »Haben sie geschmeckt?«
»Ich habe keine genommen«, sagte sie.
»Ah, dann lernen Sie, Ihren Schmerz zu genießen.«
Er schien so oder so zu gewinnen.
Er brachte die Flasche weg und kam mit einem Glas Wasser zurück. »Sie müssen den Nieren genug zu tun geben, oder sie werden atrophieren.«
»Wurden Sie als Kind mißbraucht?« fragte Chyna, während Vess die Arbeitsplatte abwischte, auf der er das Sandwich gemacht hatte, und haßte sich sofort, weil sie die Frage gestellt hatte und noch immer versuchte, ihn zu verstehen.
Vess lachte und schüttelte den Kopf. »Das ist kein Lehrbuch, Chyna. Das ist das wirkliche Leben.«
»Wurden Sie mißbraucht?«
»Nein. Mein Vater war Buchhalter in Chicago. Meine Mutter hat in einem Kaufhaus als Verkäuferin von Damenbekleidung gearbeitet. Sie haben mich geliebt. Haben mir zu viel Spielzeug mitgebracht, mehr, als ich gebrauchen konnte, besonders, da ich es vorzog, mit … anderen Dingen zu spielen.«
»Mit Tieren«, sagte sie.
»Das stimmt.«
»Und bevor die Säugetiere dran waren, mit Insekten und anderen kleinen Lebewesen wie Goldfischen oder Schildkröten.«
»Steht das in Ihren Lehrbüchern?«
»Das ist das früheste und schlimmste Anzeichen. Das Foltern von Tieren.«
Er zuckte mit den Achseln. »Es hat Spaß gemacht … zuzusehen, wie das dumme Ding sich in seinen brennenden Panzer zurückzog. Wirklich, Chyna, Sie müssen lernen, diese kleinkarierten Wertvorstellungen hinter sich zu lassen.«
Sie schloß die Augen und hoffte, er würde zur Arbeit fahren.
»Auf jeden Fall haben meine Eltern mich geliebt. Sie gaben sich der Täuschung der Menschheit völlig hin. Als ich neun Jahre alt war, habe ich ein Feuer gelegt. Feuerzeugbenzin auf das Bett, in dem sie schliefen, dann eine Zigarette.«
»Mein Gott.«
»Da haben wir es schon wieder.«
»Warum?«
»Warum nicht?« spottete er.
»Gott im Himmel.«
»Wollen Sie die zweitbeste Antwort hören?«
»Ja«, sagte sie.
»Dann sehen Sie mich an, während ich mit Ihnen spreche.« Sie öffnete die Augen.
Sein Blick durchdrang sie. »Ich habe sie angezündet, weil ich dachte, sie kämen allmählich dahinter.«
»Wohinter?«
»Daß ich etwas Besonderes bin.«
»Sie haben Sie mit der Schildkröte erwischt«, vermutete sie.
»Nein. Mit dem Kätzchen eines Nachbarn. Wir haben in einem schönen Vorort gewohnt. In dieser Gegend gab es so viele Haustiere. Als sie mich erwischten, war von Ärzten die Rede. Schon mit neun Jahren wußte ich, daß ich das nicht zulassen durfte. Ärzte lassen sich womöglich nicht so leicht täuschen. Also hatten wir einen kleinen Brand.«
»Und Sie sind ungeschoren davongekommen?«
Er war mit dem Saubermachen fertig und setzte sich nun an den Tisch. »Niemand hat Verdacht geschöpft. Dad hat im Bett geraucht, haben die Feuerwehrleute gesagt. So etwas kommt immer wieder vor. Das ganze Haus wurde ein Opfer der Flammen. Ich kam gerade noch lebend raus, und Mammi hat geschrien, und ich konnte nicht zu ihr, konnte meiner Mammi nicht helfen,
Weitere Kostenlose Bücher