Intensity
»Vielleicht.«
Chyna sah, daß die Finger seiner rechten Hand mit einer getrockneten Schmutzschicht überzogen waren.
»Ich kann jetzt ihr Moschus riechen«, sagte er, »die Struktur ihrer Augen sehen, hören, wie das Grün der Farne um sie herum schwingt, und es ist ein kaltes, dunkles Öl in meinem Blut.«
Darauf war keine Antwort möglich, und so schwieg sie.
Vess senkte den Blick von Chynas Augen zur Spitze des Schraubenziehers – und dann zu seinen Schuhen. Er schaute über seine Schulter und sah den Dreck auf dem Boden.
»So nicht«, sagte er.
Er zog die Schuhe aus und trug sie in die Waschküche, um sie später dort zu putzen.
Er kehrte mit nackten Füßen zurück und tilgte mit Papierküchentüchern und einer Flasche Windex jede Spur der Erde von den Fliesen. Dann reinigte er im Wohnzimmer den Teppich mit einem Staubsauger.
Diese häuslichen Pflichten beanspruchten ihn etwa fünfzehn Minuten lang, und als er fertig war, befand er sich nicht mehr in der Stimmung, die ihn beherrscht hatte, als er die Küche betreten hatte. Die Hausarbeit schien seine Schwermut wegzuscheuern.
»Ich werde jetzt nach oben gehen und schlafen«, sagte er. »Sie werden leise sein und möglichst wenig mit den Ketten rasseln.«
Sie sagte nichts.
»Sie werden leise sein, oder ich werde runterkommen und Ihnen anderthalb Meter Kette in den Arsch schieben.«
Sie nickte.
»Braves Mädchen.«
Er verließ den Raum.
Der Unterschied zwischen Vess’ üblichem Verhalten und seiner derzeitigen Stimmung war Chyna nicht entgangen. Ein paar Minuten lang hatte er sein übliches Selbstvertrauen verloren. Nun hatte er es zurückgewonnen.
Mr. Vess schläft immer nackt, um leichter träumen zu können. Im Schlummerland sind alle Leute nackt, denen er begegnet, ob sie nun in prachtvoller Nässe unter ihm zerrissen werden oder in einem Rudel mit ihm durch hohe Schatten und hinab ins Mondlicht laufen. In seinen Träumen herrscht eine Hitze, die Kleidung nicht nur überflüssig macht, sondern jeden Gedanken an Kleider aus ihm herausbrennt, so daß es in der Traumwelt viel natürlicher als in der richtigen ist, nackt zu laufen.
Er leidet nie unter Alpträumen. Das kommt daher, daß er in seinem Alltag den Ursachen seiner Verspannungen ins Auge sieht und sich mit ihnen befaßt. Nie lastet Schuld auf seinen Schultern. Er ist nicht vom Urteil anderer abhängig und läßt sich nicht von dem beeinflussen, was sie von ihm halten. Er weiß, wenn sich etwas, das er tun möchte, richtig anfühlt , ist es auch richtig. Er versucht immer mit sich im reinen zu bleiben, denn um ein erfolgreicher Mensch zu sein, muß man sich zuerst selbst mögen. Dementsprechend geht er stets mit einem klaren Kopf und einem sorgenfreien Herz ins Bett.
Nun, ein paar Sekunden, nachdem er den Kopf auf das Kissen gelegt hat, schläft Mr. Vess ein. Von Zeit zu Zeit bewegen seine Beine sich unter den Laken, als würde er etwas jagen. Einmal sagt er, fast ehrfürchtig, »Vater« im Schlaf, und das Wort hängt wie eine Blase in der Luft – was seltsam ist, denn als Edgler Vess neun Jahre alt war, hat er seinen Vater verbrannt.
Unter dem Rasseln der Ketten beugte Chyna sich hinab und hob das zusätzliche Kissen vom Boden neben sich auf. Sie legte es auf den Tisch, sank vor und legte den Kopf darauf.
Der Küchenuhr zufolge war es Viertel vor zwölf. Sie war seit über vierundzwanzig Stunden wach, von den paar Minuten einmal abgesehen, die sie im Wohnmobil gedöst hatte und bewußtlos gewesen war, nachdem Vess sie niedergeschlagen hatte.
Obwohl sie erschöpft und vor lauter Verzweiflung ganz empfindungslos war, rechnete sie nicht damit, einschlafen zu können. Doch sie hoffte, wenn sie die Augen geschlossen hielt und ihre Gedanken zu angenehmeren Zeiten treiben ließ, würde sie sich vielleicht von dem leichten, aber allmählich stärker werdenden Druck ihrer Blase und den Schmerzen in ihrem Nacken und Zeigefinger ablenken können.
Sie ging gerade durch einen Wind voller zerfetzter roter Blüten und hatte seltsamerweise keine Angst vor der Dunkelheit und den Blitzen, die sie manchmal zerrissen, als sie plötzlich geweckt wurde, nicht von einem Donnerschlag, sondern von dem Geräusch, mit dem eine Schere Papier durchschnitt.
Sie hob den Kopf vom Kissen und setzte sich auf. Das Neonlicht brannte in ihren Augen.
Edgler Vess stand am Spülbecken und schnitt eine große Tüte Kartoffelchips auf.
»Ah«, sagte er, »Sie sind wach, Sie Schlafmütze.«
Chyna schaute auf die Uhr.
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