Intensity
hatte, täuschend ähnlich war.
Das imposante Geschöpf blieb vor der hölzernen Balustrade der flachen Veranda stehen, keine zweieinhalb Meter entfernt, und sah direkt zum Fenster. Zu Chyna.
Sie konnte sich nicht vorstellen, daß der Elch sie sah. Da die Lampen ausgeschaltet waren, war es in der Küche im Augenblick dunkler als in der Dämmerung, in der das Tier stand. Von seinem Blickpunkt aus mußte das Innere des Hauses ein undurchdringliches Schwarz sein.
Und doch konnte sie nicht abstreiten, daß ihre Blicke sich trafen. Das Tier hatte große, dunkle Augen, die schwach leuchteten.
Ihr fiel Vess’ seltsamer Auftritt von heute morgen wieder ein, bei seiner plötzlichen Rückkehr in die Küche. Er war unerklärlich verspannt gewesen, hatte unaufhörlich den Schraubenzieher in der Hand gedreht, und in seinen Augen war ein seltsames Flackern gewesen. Und er hatte sie über die Elche in dem Mammutbaumwald ausgefragt.
Chyna wußte genauso wenig, warum die Elche für Vess so wichtig waren, wie sie sich vorstellen konnte, warum dieses Tier nun hier stand, ohne von den Hunden belästigt zu werden, und sie eindringlich durch das Fenster betrachtete. Sie dachte aber nicht lange über dieses Geheimnis nach. Sie war nun in der Stimmung, einfach zu akzeptieren, einzugestehen und zu erleben, daß ein Verständnis nicht immer erreichbar war.
Als der dunkel-purpurne Himmel indigoblau und dann tintenschwarz wurde, leuchteten die Augen des Elchs allmählich immer heller. Sie waren nicht rot, wie es bei einigen Tieren des Nachts der Fall war, sondern golden.
Bleiche Atemwolken strömten rhythmisch aus seinen nassen, schwarzen Nüstern.
Ohne den Blickkontakt mit dem Tier abzubrechen, drückte Chyna die Innenseiten ihrer Handgelenke so fest zusammen, wie die Handschellen es erlaubten. Die Stahlketten rasselten auf ganzer Länge zwischen ihr und dem Stuhl, auf dem sie saß, zwischen ihr und dem Tisch, zwischen ihr und der Vergangenheit.
Sie erinnerte sich an den ernsten Eid, den sie vor einer Weile geleistet hatte: sich lieber zu töten, als Zeugin der totalen psychischen Zerstörung des jungen Mädchens im Keller zu werden. Sie hatte geglaubt, sie würde den Mut finden, die Adern in ihren Handgelenken aufzubeißen, damit sie verblutete. Der Schmerz wäre scharf, aber relativ kurz … und dann würde sie schläfrig von dieser irdischen Schwärze in eine andere übergehen, die ewig währte.
Sie weinte nicht mehr. Ihre Augen waren trocken.
Ihr Herzschlag war überraschend langsam, so wie der einer Schläferin in der traumlosen Ruhe, die ein starkes Beruhigungsmittel erzeugte.
Sie hob die Hände vor das Gesicht, bog sie so weit wie möglich zurück und spreizte die Finger, damit sie dem Elch noch immer in die Augen sehen konnte.
Sie brachte den Mund an die Stelle an ihrem linken Handgelenk, an der sie zubeißen mußte. Ihr Atem war warm auf ihrer kühlen Haut.
Das Licht war vollständig aus dem Tag gewichen. Die Berge und der Himmel waren wie eine schwere, schwarze, sich auftürmende Dünung auf einem nächtlichen Meer, ein ertränkendes Gewicht, das sich auf sie senkte.
Das herzförmige Gesicht des Elchs war auf die Entfernung von nur zweieinhalb Metern kaum sichtbar. Seine Augen leuchteten jedoch.
Chyna drückte die Lippen auf ihr linkes Handgelenk. Bei diesem Kuß spürte sie ihren gefährlich langsamen Puls.
Durch das Dunkel beobachteten sie und der Elch einander, der sie zu bewachen schien, und sie wußte nicht, ob dieses Geschöpf sie oder sie das Tier erstarren ließ.
Dann drückte sie die Lippen auf ihr rechtes Handgelenk. Die gleiche kühle Haut, der gleiche schwerfällige Puls.
Sie öffnete die Lippen und nahm ein Stückchen Haut zwischen die Zähne. Es schien sich genug Gewebe zwischen ihren Schneidezähnen zu befinden, um eine tödliche Wunde zu reißen. Und wenn sie ein zweites, ein drittes Mal zubiß, würde sie ganz bestimmt Erfolg haben.
Als sie nahe daran war, tatsächlich zuzubeißen, wurde ihr klar, daß dazu nicht der geringste Mut erforderlich war. Genau das Gegenteil traf zu. Es war eine tapfere Tat, nicht zuzubeißen.
Aber Tapferkeit war ihr schnurz, und um Mut gab sie einen Dreck. Auch um alles andere. Ihr war nur daran gelegen, der Einsamkeit, der Pein ein Ende zu machen, dem schmerzlich leeren Gefühl von Sinnlosigkeit.
Und das Mädchen. Ariel. Unten in der verhaßten stillen Dunkelheit.
Eine Weile behielt sie die Haltung bei, in der sie den tödlichen Biß vornehmen konnte.
Zwischen
Weitere Kostenlose Bücher