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Intensity

Intensity

Titel: Intensity Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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Mal sein Gesicht gesehen. Der Mädchenname ihrer Mutter war Shepherd; sie hatte nie geheiratet. »Sei froh, daß du unehelich bist, Baby«, hatte Anne gesagt, »denn das bedeutet, daß du frei bist. Kleine Bastardkinder haben nicht so viele Verwandte, die sich wie Blutegel an einen klammern und einem die Seele wegsaugen.« Als Chyna sich im Lauf der Jahre immer wieder mal nach ihrem Vater erkundigt hatte, hatte Anne lediglich gesagt, er sei tot, und sie hatte es mit trockenen Augen und sogar leichten Herzens sagen können. Sie wollte ihr nicht erzählen, wie er ausgesehen, wo er gewohnt hatte, was er von Beruf gewesen war, ihr nicht einmal seinen Namen verraten. »Als ich merkte, daß ich mit dir schwanger war«, hatte Anne einmal gesagt, »waren wir schon nicht mehr zusammen. Er war Geschichte. Ich habe ihm nie von dir erzählt. Er hat es nie erfahren.«
    Manchmal gab Chyna sich Tagträumen über ihn hin: Sie stellte sich vor, ihre Mutter habe sie belogen, wie auch in so vieler anderer Hinsicht, und ihr Dad lebte noch. Er könnte aussehen wie Gregory Peck in  Wer die Nachtigall stört , ein großer Mann mit sanften Augen, leise sprechend, freundlich, mit einem leisen Humor und einem scharfen Sinn für Gerechtigkeit, der genau wußte, wer er war und woran er glaubte. Er könnte ein Mann sein, den andere Leute respektierten und bewunderten, der sich aber nicht für etwas Besseres hielt. Er könnte sie lieben.
    Hätte sie seinen Namen gekannt, seinen Vor- oder Nachnamen, hätte sie ihn jetzt laut ausgesprochen. Der bloße Klang des Namens ihres Vaters hätte sie getröstet.
    Sie weinte. In den vielen Stunden seit ihrer ersten Begegnung mit Vess hatte sie mehr als einmal am Rand der Tränen gestanden und sie unterdrückt. Aber diese heiße Flut konnte sie nicht zurückhalten. Diese bitteren Tränen waren das willkommene Eingeständnis, daß für sie keine Hoffnung mehr bestand. Sie spülten sie von Hoffnung frei, und genau das wollte sie in diesem Augenblick, denn Hoffnung führte nur zu Enttäuschung und Schmerz. Ihr gesamtes aufgewühltes Leben lang – zumindest seit ihrem achten Geburtstag – hatte sie sich geweigert, ungehemmt zu weinen, die Tränen wirklich fließen zu lassen. Nur, wenn man hart und mit trockenen Augen durchs Leben ging, konnte man sich bei diesen Leuten Respekt verschaffen, in deren Augen ein furchteinflößendes, trübes Licht leuchtete und die um einen herumschlichen wie Schakale um eine Gazelle mit einem gebrochenen Bein, sobald sie bei einem anderen die geringste Schwäche bemerkten. Aber daß sie jetzt die Tränen zurückhielt, würde den Schakal nicht beeindrucken, der versprochen hatte, nach Mitternacht zurückzukommen, und der Kummer und die Verletzungen eines ganzen Lebens brachen aus ihr hervor. Das gewaltige, nasse Schluchzen schüttelte Chyna so heftig durch, daß ihre Brust plötzlich stärker schmerzte als ihr Nacken oder der verstauchte Finger. Ihr Hals fühlte sich bald heiß und rauh an. Sie sackte in ihren rasselnden Ketten zusammen, auf dem Stuhl, der sie gefangenhielt, das Gesicht verzerrt und tränennaß und heiß, der Magen zusammengezogen und kalt, und sie hatte den Geschmack von Salz im Mund und keuchte und stöhnte vor Verzweiflung und drohte an dem Bewußtsein ihrer schrecklichen Einsamkeit zu ersticken. Sie zitterte unbeherrscht, und ihre Hände verkrampften sich schwach zu Fäusten, öffneten sich dann aber wieder und griffen in die Luft um ihren Kopf, als sei ihre Qual eine Kapuze, die sie herunterreißen und beiseite werfen konnte. Völlig allein, ungeliebt und hilflos wirbelte sie immer schneller in ein seelisches Spiegelkabinett hinab und konnte zum Trost nicht einmal den Namen ihres Vaters aussprechen.
    Nach einer Weile dröhnte ein Motor auf. Sie hörte ein blechernes Hupen: zwei kurze Töne und dann noch zwei.
    Chyna hob den Kopf, schaute durch das Fenster und sah, daß die Scheinwerfer eines Wagens die Scheune verließen. Die Tränen ließen sie nur verschwommen sehen. Den Wagen selbst konnte sie nicht erkennen, als er in der grauen Dämmerung am Haus vorbeifuhr, aber natürlich mußte sich Vess darin befinden. Dann war er verschwunden.
    Das vertrauliche Hupen sollte sie verspotten, aber dieser Spott reichte nicht aus, um ihren Zorn wieder zu entfachen.
    Sie schaute in die Abenddämmerung hinaus, ohne etwas darum zu geben, daß es vielleicht die letzte war, die sie je sah. Wichtig war für sie nur, daß sie zu viele ihrer sechsundzwanzig Jahre allein

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