Intensity
schon die bloße Vorstellung, etwas zu essen, ließ sie würgen.
Etwa vierundzwanzig Stunden waren verstrichen, seit sie ihre letzte volle Mahlzeit zu sich genommen hatte, das Abendessen im Haus der Templetons. Die paar Bissen Käseomelett, die sie zum Frühstück gegessen hatte, konnten eigentlich nicht genügen, um sie aufrechtzuerhalten, besonders, wenn man ihre körperlichen Aktivitäten in der vergangenen Nacht bedachte; sie hätte einen Bärenhunger haben müssen.
Etwas zu essen wäre jedoch ein Eingeständnis von Hoffnung gewesen, und sie wollte nicht mehr hoffen. Sie hatte ihr ganzes Leben lang gehofft, eine Närrin, die sich an optimistischen Erwartungen berauscht hatte. Doch jede Hoffnung hatte sich als Seifenblase erwiesen. Jeder Traum war ein Glas, das darauf wartete, zerbrochen zu werden.
Bis gestern nacht hatte sie geglaubt, sie habe sich weit genug vom Elend ihrer Kindheit entfernt, sei mühsam eine eingefettete Leiter hinaufgeklettert und habe phänomenale Höhen des Verständnisses erreicht, und sie war insgeheim stolz auf sich und ihre Leistungen gewesen. Nun hatte es den Anschein, daß sie überhaupt nicht geklettert, daß ihr Aufstieg nur eine Illusion gewesen war und ihre Füße seit Jahren stets über dieselben beiden Sprossen geglitten waren, als hätte sie eine dieser Fitnessmaschinen benutzt, einen StairMaster, und dabei eine beträchtliche Menge Kalorien verbrannt, ohne am Ende der Übungseinheit auch nur einen Zentimeter höher zu stehen als am Anfang. Die langen Jahre als Kellnerin, die müden Füße und die hartnäckigen Kreuzschmerzen, weil sie stundenlang auf den Beinen gewesen war, die anspruchsvollsten Seminare, welche die University of California anbot, das Lernen bis spät in die Nacht, nachdem sie von der Arbeit nach Hause gekommen war, die unzähligen Opfer, die Einsamkeit, das Bemühen, das unaufhörliche Bemühen – das alles hatte hierher geführt, an diesen trostlosen Ort, zu diesen Ketten, in dieses verlöschende Zwielicht.
Sie hatte gehofft, eines Tages ihre Mutter zu verstehen und einen guten Grund zu finden, ihr zu verzeihen. Sie hatte sogar, Gott stehe ihr bei, insgeheim gehofft, sie könnten einen Waffenstillstand schließen. Sie konnten niemals ein natürliches Mutter-Tochter-Verhältnis haben, und sie konnten niemals Freundinnen sein; aber sie hatte es zumindest für möglich gehalten, daß sie und Anne eines Tages in einem Restaurant mit Blick auf das Meer gemeinsam zu Mittag essen konnten, im Freien auf der Terrasse unter einem großen Sonnenschirm, wo sie niemals von der Vergangenheit sprechen, sondern einen angenehmen Plausch über Filme, das Wetter und die Seemöwen im saphirblauen Himmel halten würden. Das mochte zwar keine heilsame Zuneigung bewirken, ging aber vielleicht ohne Haß zwischen ihnen vonstatten. Nun wußte sie, selbst wenn sie wie durch ein Wunder dieser Gefangenschaft unberührt und lebend entrinnen sollte, würde sie niemals dieses erträumte Ausmaß an Verständnis aufbringen; die Wiederannäherung zwischen ihr und ihrer Mutter war unmöglich.
Menschliche Grausamkeit und Verrat überstiegen jedes Verständnis. Es gab keine Antworten. Nur Ausflüchte.
Chyna fühlte sich hilflos. Sie war an einem viel seltsameren Ort als Edgler Vess’ Küche und in einer Dunkelheit, die viel mehr Furcht einflößte.
In all den Jahren hatte sie sich nie hilflos gefühlt, nie wirklich hilflos. Verängstigt, ja. Manchmal verwirrt und einsam. Aber sie hatte immer eine Landkarte in ihrem Geist gehabt, auf der, wenn auch nur verschwommen, ein Weg eingezeichnet war, und sie hatte geglaubt, daß in ihrem Herzen ein Kompaß war, der sie nicht im Stich lassen konnte. Sie war oft am falschen Ort gewesen, aber stets überzeugt, daß es einen Ausweg gab – genau, wie es in einem Spiegelkabinett auf der Kirmes stets einen sicheren Weg durch die unendlichen Zerrbilder ihrer selbst gab, durch scheußliche Reflexionen und durch alle rätselhaften silbernen Schatten.
Diesmal hatte sie keine Karte.
Keinen Kompaß.
Das Leben selbst war das größte Spiegelkabinett, und sie hatte sich in seinen tiefen Kammern verirrt, und es war niemand da, der sie trösten oder ihre Hand halten könnte.
Als Chyna sich schließlich eingestand, daß sie praktisch seit ihrer Geburt mutterlos war und stets mutterlos sein würde und ihre einzige enge Freundin tot in Edgler Vess’ Wohnmobil lag, wünschte sie sich, sie würde den Namen ihres Vaters kennen, hätte wenigstens ein einziges
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