Intensity
den feierlich gemessenen Schlägen war ihr Herz mit der Ruhe tiefen Wassers erfüllt.
Dann, ohne daß sie gemerkt hatte, wie sie das Stück Haut zwischen ihren Zähnen freigab, wurde Chyna bewußt, daß sie die Lippen wieder auf das unverletzte Handgelenk drückte. In diesem Kuß des Lebens fühlte sie ihren langsamen Pulsschlag.
Der Elch war verschwunden.
Weg.
Chyna stellte überrascht fest, daß sich dort, wo das Geschöpf gestanden hatte, nur noch Dunkelheit befand. Sie konnte sich nicht erinnern, die Augen geschlossen oder auch nur geblinzelt zu haben. Und doch mußte in einer Art Trance ihr Sehsinn kurz ausgesetzt haben, denn der stattliche Elch war auf so geheimnisvolle Weise in die Nacht verschwunden, wie die Assistentin eines Bühnenmagiers sich unter einem kunstvoll drapierten schwarzen Tuch auflöste.
Plötzlich hämmerte ihr Herz laut und schnell.
»Nein«, flüsterte sie in der dunklen Küche, und das Wort war sowohl ein Versprechen als auch ein Gebet.
Ihr Herz war wie ein Rad, das sich rasend schnell drehte und sie aus diesem inneren Grau trieb, in dem sie sich verirrt hatte, aus der Ödnis in eine hellere Landschaft.
»Nein.« Diesmal war Trotz in ihrer Stimme, und sie flüsterte nicht mehr. »Nein.«
Sie zerrte an ihren Ketten, als sei sie ein temperamentvolles Pferd, das seine Zuggurte abschütteln wollte.
»Nein, nein, nein. Scheiße, nein.« Ihr Protest war so laut, daß ihre Stimme von der harten Oberfläche des Kühlschranks zurückgeworfen wurde, von dem Glas in der Herdtür und den Keramikfliesen hinter der Arbeitsfläche.
Sie versuchte, den Tisch zurückzustoßen und sich zu erheben. Aber eine Schlaufe der Kette verband ihren Stuhl mit dem schweren zylindrischen Rahmen, welcher die Tischplatte trug, und schränkte ihre Bewegungsfreiheit ein.
Wenn sie ihre Fersen auf die Vinylfliesen stemmte und versuchte, rückwärts zu rutschen, würde sie sich wahrscheinlich überhaupt nicht bewegen. Bestenfalls würde sie den schweren Tisch Zentimeter um Zentimeter mit sich schleppen. Und wenn sie es tausend Jahre lang probierte, sie würde in der Kette nicht genug Spannung erzeugen können, um sie zu zerreißen.
»Nein, verdammt, auf keinen Fall, nein!« Sie weigerte sich noch immer, ihre Niederlage einzugestehen, und drückte die Worte zwischen zusammengebissenen Zähnen heraus.
Sie griff nach vorn und zog die Kette stramm, die von der linken Handschelle nach rechts und dann um ihren Rücken herum führte, wo sie sich hinter dem Sitzkissen um die Sprossen der Stuhllehne wand. Chyna streckte sich, hoffte, das Knacken des trockenen Holzes zu hören, zerrte fester, noch fester, und ein scharfer Stich fuhr in ihren Nacken; im Hals und an der rechten Schläfe pochte wieder ein heftiger Schmerz auf, doch sie ließ sich davon nicht aufhalten. Sie ruckte stärker denn je zuvor, verkratzte bestimmt das schöne Möbelstück, und hielt den Stuhl erneut – zieh, zieh! – fest mit ihrem Körper unten, während sie ihn gleichzeitig halb vom Boden hochhob, indem sie wütend an den hinteren Latten riß, immer wieder, bis ihre Muskeln zitterten. Zieh! Während sie vor Anstrengung und Frustration aufstöhnte, stach der Schmerz wie Nadeln in ihren Nacken, durch beide Schultern und in die Arme. Zieh! Sie brachte all ihre Kraft auf, hielt länger durch als zuvor, biß die Zähne so hart zusammen, daß ihre Kiefermuskeln nervös zuckten, und zog noch einmal, bis sie die Arterien in ihren Schläfen pochen fühlte und wirbelnde rote und silberne Feuerräder hinter ihren Lidern sah. Aber die Belohnung, das Geräusch von brechendem Holz blieb aus. Der Stuhl war stabil, die Latten waren dick, die Fugen fest.
Ihr Herz dröhnte, teilweise wegen ihrer Anstrengung, aber hauptsächlich, weil sie vor einem erhebenden Gefühl der Befreiung strotzte. Was verrückt war, verrückt, denn sie war noch angekettet, dem Abschütteln ihrer Fesseln nicht näher als in dem Augenblick, in dem sie auf diesem Stuhl erwacht war. Und doch kam sie sich vor, als sei sie bereits entkommen und müsse nur noch darauf warten, daß die Wirklichkeit die Freiheit einholte, die sie durch reine Willenskraft erzwungen hatte.
Sie saß keuchend da und dachte nach.
Schweiß perlte auf ihrer Stirn.
Vergiß den Stuhl erst mal. Um sich von ihm zu lösen, mußte sie aufstehen und sich bewegen können. Mit dem Stuhl konnte sie sich erst befassen, wenn sie sich vom Tisch befreit hatte.
Sie konnte nicht tief genug hinabgreifen, um den
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