Intensity
Bundesregierung trug. Den Anfang machte die Sozialversicherung. Die Seiten waren anscheinend mit Notizen von Vess gefüllt, die beschrieben, wie es ihm durch hartnäckiges Probieren gelungen war, in die Dateien der Verwaltung einzudringen und sie zu manipulieren. Das zweite Trennblatt trug die Aufschrift AUSSENMINISTERIUM (PASSAMT), und den folgenden Notizen nach zu urteilen versuchte Vess gerade festzustellen, ob er auf Um- und Irrwegen in die computerisierten Unterlagen dieses Amtes eindringen und sie verändern konnte, ohne dabei entdeckt zu werden.
Er bereitete sich offensichtlich unter anderem auf den Tag vor, an dem seine »gemeingefährlichen Abenteuer« aufflogen und er eine neue Identität benötigte.
Doch Chyna konnte nicht glauben, daß Vess hier nur an der Veränderung seiner amtlichen Unterlagen und der Beschaffung einer neuen Identität arbeitete. Sie hatte das beunruhigende Gefühl, daß dieser Raum Informationen über Vess enthielt, die für ihr eigenes Überleben von ausschlaggebender Bedeutung sein konnten, wenn sie nur herausbekam, wo sie danach suchen mußte.
Sie legte das Notizbuch auf den Schreibtisch zurück und drehte sich auf dem Stuhl zu dem zweiten Computer um. Unter einem Ende dieses Tisches stand ein Aktenschrank mit zwei Schubladen. Sie öffnete die obere und sah Hängeordner mit blauen Schildern; auf jedem dieser Schilder standen zuerst ein Nach- und dann ein Vorname.
Jeder Ordner enthielt ein zweiseitiges Dossier über einen Beamten einer Gesetzesbehörde, und nach ein paar Minuten der Lektüre kam Chyna zu dem Schluß, daß es sich um Deputies des Sheriffs handelte, in dessen Bezirk Vess’ Haus sich befand. Diese Dossiers enthielten die Lebensläufe der Beamten sowie Informationen über ihre Familien und ihr Privatleben. Des weiteren befanden sich Kopien der offiziellen Ausweisfotos der Beamten in den Ordnern.
Sah der Verrückte einen Vorteil darin, Informationen über alle örtlichen Cops zu sammeln, praktisch als Rückversicherung gegen den Tag, an dem er gegen sie antreten mußte? Diese Mühe wirkte sogar bei jemandem, der so penibel wie Edgler Vess war, ziemlich übertrieben; andererseits war Übermaß seine Philosophie.
Die untere Schublade enthielt ebenfalls Aktenordner. Auf den Schildern standen ebenfalls Namen, wie auf denen in der oberen Schublade, aber nur Familiennamen.
In dem ersten Ordner – mit der Aufschrift ALMES – fand Chyna die auf eine Seite vergrößerte Kopie eines in Kalifornien ausgestellten Führerscheins einer attraktiven jungen Blondine namens Mia Lorinda Almes. Wenn man die außergewöhnliche Klarheit des Bilds berücksichtigte, konnte es sich nicht um eine hochgezoomte Fotokopie des Originalschriftstücks handeln, sondern nur um digital übertragene Bilddaten, die zur Reproduktion über eine Telefonleitung und einen Computer auf einen hochwertigen Laserdrucker geleitet worden waren.
Die einzigen anderen Gegenstände in dem Ordner waren sechs Polaroid-Fotos von Mia Lorinda Almes. Die ersten beiden waren Nahaufnahmen aus verschiedenen Winkeln. Sie war wunderschön. Und verängstigt.
Diese Schublade war so etwas wie Edgler Vess’ Sammelalbum.
Vier weitere Polaroid-Aufnahmen von Mia Almes.
Sieh nicht hin.
Die nächsten beiden waren Ganzkörperaufnahmen. Die junge Frau war auf beiden nackt. Und gefesselt.
Chyna schloß die Augen. Öffnete sie aber wieder. Etwas trieb sie dazu, die Fotos zu betrachten, vielleicht, weil sie sich entschlossen hatte, sich vor nichts mehr zu verstecken.
Auf dem fünften und sechsten Foto war die junge Frau tot, und auf dem letzten fehlte ihr wunderschönes Gesicht, als hätte man es ihr weggeschossen oder abgesägt.
Der Ordner und die Fotos fielen aus Chynas Händen auf den Boden, wo sie auf das Holz klackten, sich drehten und dann liegenblieben. Sie verbarg das Gesicht in den Händen.
Sie versuchte nicht, das Nachbild des grausamen Schnappschusses zu verdrängen. Statt dessen bemühte sie sich, eine neunzehn Jahre alte Erinnerung an eine Farm außerhalb von New Orleans zu unterdrücken, an zwei Besucher mit einer Styropor-Kühlbox, an eine Pistole, die aus dem Kühlschrank genommen wurde, und die eiskalte Präzision, mit der eine Frau namens Memphis zwei Kugeln abgefeuert hatte.
Doch Erinnerungen lassen sich nicht so einfach ausschalten.
Die Besucher, die schon zuvor Geschäfte mit Zack und Memphis gemacht hatten, wollten Drogen kaufen. Die Kühlbox war mit Päckchen von Hundertdollarscheinen vollgestopft.
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