Intensity
unsere Körper. Du warst die perfekte Ablenkung. Außerdem hat dich der arme dumme alte Bobby doch gar nicht angefaßt, oder? Er hat dich nur ‘ne Weile anstarren können, während Memphis die Waffe geholt hat, mehr nicht. Vergiß nicht, Schätzchen, wir haben ein Stück von diesem Kuchen abbekommen und ‘ne ganze Weile gut davon gelebt.« Und Chyna hatte sagen wollen: Aber du hast mich benutzt, du hast mich direkt vor ihn gesetzt, wo ich sehen mußte, wie sein Kopf explodiert, und ich war erst sieben Jahre alt!
In Edgler Vess’ Arbeitszimmer konnte sie all diese Jahre später noch immer den Knall des Schusses hören und sehen, wie Bobbys Gesicht zerfetzt wurde. Sie wußte nicht, was für eine Schußwaffe Memphis benutzt hatte, aber da sie so fürchterlichen Schaden angerichtet hatte, mußten es Hohlmantelgeschosse mit großem Kaliber gewesen sein, die sich beim Aufprall ausdehnten.
Sie nahm die Hände vom Gesicht und betrachtete den geöffneten Aktenschrank. Vess hatte drei Ordnerformate mit versetzt angeordneten Schildern benutzt, so daß Chyna auf der gesamten Länge der Schublade alle Namen lesen konnte. Ziemlich weit hinten, ein gutes Stück von der Almes-Akte entfernt, befand sich eine mit der Aufschrift TEMPLETON.
Sie schob die Schublade mit dem Fuß zu.
Sie hatte in diesem Arbeitszimmer zu viel gefunden – und trotzdem nichts, was ihr weiterhelfen konnte.
Bevor sie die erste Etage verließ, schaltete sie alle Lampen aus. Sollte Vess früher nach Hause kommen, bevor Chyna und Ariel die Flucht gelungen war, würde das Licht ihn warnen, daß etwas nicht in Ordnung war. Doch die Dunkelheit würde ihn einlullen, und wenn er dann über die Schwelle trat, bekam sie vielleicht eine allerletzte Chance, ihn zu töten.
Sie hoffte jedoch, daß es nicht dazu kommen würde. Trotz ihrer Wunschvorstellung, Vess einfach zu erschießen, wollte Chyna ihm nicht noch einmal gegenübertreten, selbst wenn sie eine Schußwaffe fand, sie selbst lud und vor seiner Ankunft einen Testschuß abgeben konnte. Sie war ein Überlebenstyp, und sie war eine Kämpferin, aber Vess war mehr als das: so unerreichbar wie die Sterne, wie etwas, das aus dem finsteren Himmel auf die Erde gekommen war. Sie war ihm nicht gewachsen und brauchte keine weitere Gelegenheit, um den Beweis dafür zu erbringen.
Eine Stufe nach der anderen, sich am Geländer festhaltend, ging Chyna, so schnell sie es wagte, ins Wohnzimmer hinab. Vor dem unverhangenen Fenster wartete keiner der Dobermänner.
Die Uhr auf dem Kamin zeigte zweiundzwanzig Minuten nach acht an, und plötzlich schien der Abend ein Schlitten auf einem vereisten Hang zu sein, der immer schneller in Fahrt kam.
Sie schaltete die Lampe aus und schlurfte durch die Dunkelheit in die Küche. Dort schaltete sie die Neonbeleuchtung ein, wenn auch nur, um nicht über irgend etwas zu stolpern, hinzufallen und sich an einer Glasscherbe zu schneiden.
Auch auf der hinteren Veranda waren keine Dobermänner. Hinter dem Fenster wartete nur die Nacht.
Sie betrat den fensterlosen Wäscheraum, schaltete hinter sich das Küchenlicht aus und zog die Tür zu.
Dann in den Keller hinab, zu der Werkbank und den Schränken, die sie zuvor dort gesehen hatte.
In den großen Metallschränken mit den Lüftungsschlitzen in den Türen fand sie Dosen mit Farben und Lacken, Pinsel und Arbeitskleidung, die so akkurat wie feinstes Linnen zusammengefaltet war. Ein Schrank war völlig mit dicken Polstern gefüllt, von denen schwarze Lederriemen mit verchromten Schnallen herabbaumelten; sie hatte keine Ahnung, worum es sich dabei handelte, und rührte sie nicht an. Im letzten Schrank hatte Vess diverse elektrische Werkzeuge verstaut, darunter auch eine Bohrmaschine.
In einer der Schubladen der großen Rolltruhe fand sie eine umfangreiche Sammlung von Bohrspitzen in drei durchsichtigen Plastikschachteln. Dort machte sie auch eine PlexiglasSchutzbrille ausfindig.
An der Wand hinter der Werkbank war eine Leiste mit insgesamt acht Steckdosen angebracht, außerdem befand sich neben der Werkbank über dem Fußboden eine Doppelsteckdose. Sie entschied sich für die tiefere Steckdose, da sie sich hier auf den Boden setzen konnte.
Obwohl die Bohrspitzen, von der Größe einmal abgesehen, keine Kennzeichnung trugen, vermutete Chyna, daß sie alle für Holzarbeiten gedacht waren und Stahl nicht so einfach – wenn überhaupt – durchdringen konnten. Sie wollte den Stahl aber sowieso nicht aufbohren; sie wollte lediglich den
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