Intensity
über ihn hinwegspringen und vorn aussteigen. Noch vor ein paar Minuten war sie bereit gewesen, ihn zu töten, und sie konnte sich erneut dazu bringen.
Die Vibrationen des Motors drangen durch den Boden und betäubten halbwegs ihren Hintern. Sie hätte eine völlige Taubheit willkommen geheißen; der Teppichboden erwies sich recht schnell als unzureichendes Polster, und ihr Steißbein begann zu schmerzen. Sie verlagerte ihr Gewicht von einer Pobacke auf die andere, beugte sich vor und lehnte sich wieder zurück, doch nichts verschaffte ihr mehr als ein paar Sekunden Erleichterung. Der Schmerz breitete sich in ihr Kreuz aus, und leichtes Unbehagen steigerte sich zu ernsthaften Beschwerden.
Zwanzig Minuten, eine halbe Stunde, vierzig Minuten, eine Stunde, noch länger – sie ertrug die Qualen, indem sie sich alle Möglichkeiten vorzustellen versuchte, wie ihre Flucht ablaufen könnte, wenn das Wohnmobil angehalten und der Fahrer seinen Platz hinter dem Lenkrad verlassen hatte. Sie konzentrierte sich. Durchdachte alles. Plante eine Unzahl von Eventualitäten mit ein. Doch schließlich konnte sie an nichts anderes mehr denken als an den Schmerz.
Es war kühl im Wohnmobil, und unten auf den Treppenstufen gab es nicht die geringste Wärme. Die Schwingungen des Motors und der Straße durchdrangen ihre Schuhe und hämmerten unentwegt auf ihre Hacken und Fußsohlen ein. Sie bog die Zehen, befürchtete, daß in ihren kalten, schmerzenden Füßen und immer steifer werdenden Wadenmuskeln Krämpfe entstanden, die sie behinderten, sobald die Zeit zum Handeln gekommen war.
Vergiß die Trauer, dachte sie mit einer seltsamen Ausgelassenheit, die der Verzweiflung beunruhigend nahe kam. Vergiß die Gerechtigkeit. Gib mir einfach einen bequemen Stuhl, auf dem ich meinen Arsch verwöhnen kann, laß mich einfach eine Weile sitzen, bis meine Füße wieder warm sind, und später kannst du mein Leben haben, wenn du es unbedingt willst.
Die sich dahinziehende Untätigkeit forderte nicht nur körperlichen Tribut, sondern begann sie schon bald zu deprimieren. Als sie den Eindringling im Haus erstmals gehört hatte, noch bevor er das Gästezimmer betrat, hatte sie gewußt, daß Sicherheit in der Bewegung lag. Nun verlangte ihre Seele nach Bewegung, nach Ablenkung. Doch die Umstände verlangten, daß sie still dasaß und wartete. Sie hatte zu viel Zeit zum Nachdenken – und zu viele unangenehme Gedanken, denen sie nachhängen konnte.
Sie verfiel in einen solch tiefen Kummer, daß ihr die Tränen kamen – und da wurde ihr klar, daß sie nicht ungebührlich unter Schmerzen im Hintern oder Rücken oder unter dem kalten Pochen in ihren Füßen litt. Der echte Schmerz war in ihrem Herzen, der Schmerz, den zu unterdrücken sie gezwungen war, seit sie Paul und Sarah gefunden hatte, seit sie den leichten Salmiakgeruch von Sperma in Lauras Schlafzimmer wahrgenommen und die matt glänzenden Glieder der Kette gesehen hatte. Der körperliche Schmerz war nur eine lahme Entschuldigung für ihre Tränen.
Doch wenn sie jetzt dem Impuls nachgab, vor Selbstmitleid zu weinen, dann würde eine wahre Flut der Trauer um Paul, Sarah und Laura aus ihr herausbrechen, um die ganze verdammte beschissene Menschheit, und sinnloser Groll über die Tatsache, daß schwer erarbeitete Hoffnung sich allzu oft in einen Alptraum verwandelte. Sie würde das Gesicht in den Händen vergraben und sinnlos jammernd die Frage stellen, die man Gott öfter als jede andere gestellt hatte: Warum, warum, warum, warum, warum?
Es war so leicht, so befriedigend, sich den Tränen hinzugeben. Es wären selbstsüchtige Tränen der Resignation; sie würde nicht nur ihr Herz von Trauer reinigen, sondern zugleich jedes Bedürfnis hinausspülen, sich um irgend jemanden oder irgend etwas zu kümmern. Sie konnte gesegnete Erlösung erfahren, wenn sie sich einfach eingestand, daß der lange Kampf um das Verstehen den Schmerz der Erfahrung nicht wert war. Ihr Schluchzen würde das Wohnmobil abrupt zum Stillstand bringen, und der Fahrer würde nach hinten kommen und eine Frau finden, die auf den Stufen kauerte. Er würde sie niederschlagen, sie ins Schlafzimmer zerren und neben der Leiche ihrer Freundin vergewaltigen; das Grauen wäre mächtiger als alles, was sie je erlebt hatte, aber auch kurz. Und danach wäre es endgültig vorbei. Er würde sie für immer von dem Bedürfnis befreien, die Frage Warum? zu stellen, von der Qual, immer wieder durch den zerbrechlichen Boden der Hoffnung in diese nur
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