Intensity
ausgeschaltet.
Stille. Keine Vibrationen im Boden.
Nun, da das Motorgeräusch verstummt war, zitterte Chyna. Sie war nicht mehr deprimiert. Ihre Bauchmuskulatur flatterte. Sie hatte wieder Angst. Sie wollte leben.
Sie hätte es vorgezogen, wenn er ausstiege und ihr Gelegenheit zur Flucht böte, rechnete jedoch damit, daß er nicht die öffentlichen Einrichtungen, sondern die Toilette des Wohnmobils benutzte. Dann käme er genau an ihr vorbei. Wenn sie schon nicht fliehen konnte, wollte sie die Sache unbedingt hinter sich bringen.
In einem Anflug von Irrsinn fragte sie sich, was aus ihm herauskommen würde, wenn sie auf ihn einstach – Blut oder das Zeug, das aus fetten Käfern quoll, wenn man sie zertrat.
Sie erwartete, die Bewegungen des Schweins zu hören, schwere Schritte und das hohle Plong , wenn er auf eine schwache Schweißnaht im Boden trat, aber die Stille hielt an. Vielleicht nahm er sich einen Augenblick Zeit, die Arme auszustrecken, die schmerzenden Schultern zu bewegen, seinen Stiernacken zu massieren und die Müdigkeit der Fahrt abzuschütteln.
Oder vielleicht hatte er sie im Rückspiegel gesehen, ihr mondhelles Gesicht im Licht der Eßtischlampe. Er konnte sich vom Fahrersitz erheben und zu ihr schleichen, alle quietschenden Stellen im Boden vermeiden, weil er wußte, wo sie waren. Zur Eßecke gleiten. Sich über den Rand der Eckbank beugen. Sie aus nächster Nähe erschießen, während sie auf den Stufen kauerte. Ihr ins Gesicht schießen.
Chyna schaute auf und nach links, über den Rand der Eckbank. Sie war zu niedrig, um die Lampe zu sehen, die über der Mitte des Tisches hing, konnte nur deren Schein ausmachen. Sie fragte sich, ob sie seine Annäherung bemerken würde. Vielleicht sähe sie einfach nur eine Silhouette, die sich plötzlich hinter der Eckbank aufbaute, während er schon das Feuer auf sie eröffnete.
KAPITEL 4
Intensität.
Er glaubt an ein Leben voller Intensität.
Er sitzt hinter dem Lenkrad, schließt die Augen und massiert seinen Nacken.
Er versucht nicht, den Schmerz loszuwerden, der von allein kam und zu gegebener Zeit auf natürliche Weise wieder gehen wird. Er nimmt niemals Tylenol oder so einen Scheiß.
Er versucht vielmehr, den Schmerz so vollständig wie möglich zu genießen . Mit den Fingerspitzen findet er eine besonders heikle Stelle direkt links vom dritten Halswirbel, und er drückt darauf, bis der Schmerz einen Sprühnebel schwach funkelnder weißer und grauer Lichter in der Dunkelheit hinter seinen Lidern erzeugt, wie ein fernes Feuerwerk in einer Welt ohne Farben.
Sehr schön.
Schmerz ist einfach ein Teil des Lebens. Indem man ihn akzeptiert, kann man im Leiden eine überraschende Befriedigung finden. Noch wichtiger ist jedoch: Je besser er seinen eigenen Schmerz kennt, desto leichter fällt es ihm, Vergnügen am Schmerz anderer zu finden.
Zwei Wirbel tiefer findet er eine noch empfindlichere Stelle. Dort hat sich eine Sehne oder ein Muskel entzündet, ein wunderbarer kleiner Knopf, der, wenn man ihn drückt, Schmerz durch seine gesamte Schulter und bis in seinen Trapezmuskel schießen läßt. Zuerst berührt er die Stelle zärtlich wie ein Liebender und stöhnt leise, dann attackiert er sie heftig, bis die süße Qual ihn zwingt, zwischen den zusammengebissenen Zähnen Luft einzusaugen.
Intensität.
Er weiß, daß er nicht ewig lebt. Seine Zeit in diesem Körper ist begrenzt und kostbar – und darf daher nicht verschwendet werden.
Er glaubt nicht an Reinkarnation oder die üblichen Versprechen auf ein Leben nach dem Tode, welche die großen Religionen der Welt verkaufen – obwohl er manchmal spürt, daß er dicht vor einer Offenbarung von gewaltiger Bedeutung steht. Er ist bereit, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, daß es eine unsterbliche Seele gibt und sein eigener Geist eines Tages erhöht werden wird. Doch wenn er sich einer Apotheose unterziehen wird, dann durch seine eigenen kühnen Taten und nicht durch göttliche Gnade. Falls er tatsächlich zu einem Gott werden sollte, wird er sich verwandeln, weil er sich bereits entschieden hat, wie ein Gott zu leben – ohne Furcht, ohne Bedauern, ohne Grenzen, aber mit äußerst geschärften Sinnen.
Jeder kann eine Rose riechen und ihren Duft genießen. Doch er hat längst gelernt, die Zerstörung der Schönheit zu fühlen , wenn er eine Blume in der Hand zerquetscht. Hätte er jetzt eine Rose zur Hand, der er die Blütenblätter ausreißen könnte, so würde er nicht nur die Rose selbst
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