Intensity
Geschichte fertig zu sein, denn sie sagte laut: »Ariel.«
Sechzehn. Das schönste Ding auf Erden. Der reinste Engel.
Haut wie Porzellan. Atemberaubend. Seit einem Jahr im Keller eingesperrt. Ich habe sie nie angerührt – nicht so. Ich warte darauf, daß sie etwas reifer wird, noch etwas süßer.
Vor Chynas geistigem Auge war das Polaroid-Foto von Ariel so klar und deutlich wie in dem Moment, da sie es in der Hand gehalten hatte. Dieser freundliche Ausdruck, den sie mit offensichtlicher Anstrengung aufrechterhielt. Diese Augen, randvoll mit Schmerz.
Als sie zuvor das Gespräch zwischen dem Mörder und den beiden Angestellten mitgehört hatte, hatte Chyna gewußt, daß er nicht nur Spielchen mit ihnen trieb, sondern die Wahrheit sagte. Das Schwein weihte sie in seine Geheimnisse ein, gab seine perversen Verbrechen zu, zog seinen Kitzel daraus, seine Schuld einzugestehen, weil er wußte, daß sie sterben würden und keine Chance hätten, seine Eingeständnisse jemals zu wiederholen. Selbst wenn sie das Foto nicht gesehen hätte, hätte sie es gewußt.
Ariel. Diese Augen. Der Schmerz.
Als Chyna sich auf ihr Überleben konzentriert hatte, hatte sie alle Gedanken an das gefangene Mädchen aus ihrem Verstand verdrängt. Und als sie den Revolver gefunden hatte, war sie sofort überzeugt gewesen, daß sie dieses Arschloch umbringen, ihm das Gehirn aus dem Kopf pusten wollte, weil sie noch nicht imstande gewesen war, der Wahrheit ins Auge zu sehen.
Die Wahrheit war, daß sie es nicht wagte, ihn zu töten, denn wenn er tot war, würde man Ariel vielleicht nie finden – oder ein paar Tage zu spät, nachdem sie in ihrer Zelle im Keller verhungert oder verdurstet war. Vielleicht hatte er das Mädchen unter seinem Haus eingeschlossen – das man wahrscheinlich anhand der Papiere identifizieren konnte, die er bei sich trug –, vielleicht aber auch irgendwo anders, an einem abgelegenen Ort, zu dem er und nur er sie führen konnte. Chyna hätte den Mörder verfolgt, um ihn kampfunfähig zu machen, damit die Cops aus ihm herausquetschen konnten, wo er Ariel versteckt hatte. Hätte sie das Wohnmobil einholen können, hätte sie versucht, die Fahrertür aufzureißen, den Scheißkerl ins Bein zu schießen, während sie neben dem Wagen herlief, ihn so schwer zu verwunden, daß er das Fahrzeug hätte anhalten müssen. Aber sie hatte die Wahrheit vor sich verbergen müssen, weil es viel riskanter war, ihn zu verletzen, als ihm einfach durch das Fenster in den Kopf zu schießen, und vielleicht hätte sie den Mut nicht aufgebracht, so schnell zu laufen und so genau zu zielen, wenn sie sich eingestanden hätte, was in Wirklichkeit getan werden mußte.
Mit seiner Leichenfracht und dem Fahrer, dessen Name Satan oder sonstwie sein mochte, wurde das große Wohnmobil auf der Auffahrt zum Highway 101 immer kleiner. Es kam ihr buchstäblich wie die Hölle auf Rädern vor.
Irgendwo hatte der Mörder ein Haus, und unter dem Haus war ein Keller, und in dem Keller war ein sechzehnjähriges Mädchen namens Ariel, das seit einem Jahr dort gefangengehalten wurde. Noch war es unberührt, doch schon bald würde er ihm Gewalt antun; noch lebte es, aber nicht mehr lange.
»Es gibt sie wirklich«, flüsterte Chyna dem Wind zu.
Die Rücklichter schrumpften in der Nacht.
Sie suchte hektisch die einsame Straße ab, konnte aber in keiner Richtung Hilfe ausmachen. Keine Lichter von Häusern in der unmittelbaren Umgebung. Nur Bäume und Dunkelheit. Im Norden leuchtete etwas schwach, hinter dem nächsten oder übernächsten Hügel, aber sie erkannte die Lichtquelle nicht, und zu Fuß konnte sie die Stelle sowieso nicht schnell genug erreichen.
Mit flammenden Scheinwerfern tauchte auf dem Highway ein riesiger Lastwagen auf, doch er bog nicht ab, um zu tanken. Er rauschte vorbei; der Fahrer hatte Chyna offensichtlich nicht gesehen.
Das schwerfällige Wohnmobil hatte das Ende der Verbindungsstraße fast erreicht.
Chyna schluchzte – vor Enttäuschung, vor Zorn, vor Furcht um das Mädchen, das sie gar nicht kannte, und vor Verzweiflung über ihre Schuld am möglichen Tod dieses Mädchens – und wandte sich von dem Wohnmobil ab. Lief an den Tanksäulen vorbei. Um das Gebäude, den Weg entlang, den sie gekommen war.
Während ihrer gesamten Kindheit hatte ihr nie jemand auch nur die Hand gereicht. Keinen hatte es je geschert, daß sie in der Falle saß, Angst hatte und hilflos war.
Als sie nun an die Polaroid-Aufnahme dachte, kam sie ihr vor wie eins
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