Intensity
einzige Sinn der Existenz liegt darin, sich den Wahrnehmungen zu öffnen und jedes Verlangen zu befriedigen, sobald es entsteht. Edgler Vess weiß, daß es so etwas wie gute oder schlechte Wahrnehmung nicht gibt – nur die reine Wahrnehmung an sich – und daß eine jede Sinneserfahrung lohnend ist. Negative und positive Werte sind lediglich menschliche Interpretationen wertneutraler Stimuli und daher nur so beständig – soll heißen, so bedeutungslos – wie menschliche Wesen selbst. Er genießt den bittersten Geschmack genauso wie die Süße eines reifen Pfirsichs; in der Tat kaut er gelegentlich ein paar Aspirin, aber nicht, um Kopfschmerzen zu lindern, sondern um das unvergleichliche Aroma des Medikaments zu kosten. Wenn er sich zufällig schneidet, hat er nie Angst oder ist wütend, denn er findet Schmerz faszinierend und heißt ihn willkommen; selbst der Geschmack seines eigenen Blutes fasziniert ihn.
Mr. Vess weiß nicht genau, ob es so etwas wie die unsterbliche Seele gibt, er ist jedoch felsenfest davon überzeugt, daß sie uns, falls es sie gibt, nicht auf dieselbe Weise angeboren ist wie Augen und Ohren. Er glaubt, daß die Seele, falls es sie wirklich gibt, wächst wie ein Korallenriff aus den unzähligen Millionen kalkhaltiger Skelette, die Meerespolypen abgesondert haben. Doch wir bauen das Riff der Seele nicht aus toten Polypen, sondern aus den ständig miteinander verwachsenden Erfahrungen auf, die wir im Lauf des Lebens machen. Nach Vess’ fester Überzeugung muß man, um sich eine beeindruckende Seele zu verdienen – oder überhaupt eine Seele –, sich jeder möglichen Erfahrung öffnen, sich in den unerschöpflichen Ozean der Sinnesanregungen stürzen, der unsere Welt ausmacht, und sie furchtlos und unerschrocken erfahren , ohne ein Urteil darüber zu fällen, ob sie gut oder schlecht sind, richtig oder falsch. Wenn seine Annahme richtig ist, baut er sich mit seiner Art zu leben die komplizierteste, ausgeklügeltste – um nicht zu sagen: barockste – und wichtigste Seele auf Erden auf.
Die große Lüge besteht darin, daß es solche Vorstellungen wie Liebe, Schuld und Haß gibt. Man kann Mr. Vess mit einem beliebigen Priester in ein Zimmer stecken und den beiden einen Bleistift zeigen, und beide werden bezüglich der Farbe, Größe und Form übereinstimmende Aussagen treffen. Man kann ihnen die Augen verbinden und Zimt unter die Nase halten, und sie werden ihn aufgrund des Geruchs identifizieren. Aber wenn man ihnen eine Mutter zeigt, die mit ihrem Baby schmust, wird der Priester Liebe sehen, wo Mr. Vess nur eine Frau sieht, welche die Sinneseindrücke genießt, die das Baby ihr verschafft – den Geruch des frisch gebadeten Kindes, die Weichheit seiner rosa Haut, die unbestreitbar angenehme Rundheit seines einfach geformten Gesichts, die Musikalität seines Gekichers; seine offensichtliche Hilflosigkeit und Abhängigkeit befriedigen sie zutiefst. Der größte Fluch der menschlichen Intelligenz besteht darin, daß sie bei den meisten Angehörigen dieser Spezies die Sehnsucht weckt, mehr zu sein, als sie sind. Vess ist der Ansicht, daß alle Männer und Frauen im Prinzip nichts als Tiere sind – in der Tat kluge Tiere, aber trotzdem Tiere; Reptilien, die sich aus jenem ersten Fisch entwickelt haben, der als erster aus dem Urmeer kroch. Sie werden, wie er weiß, ausschließlich von Sinneseindrücken motiviert und gelenkt, sind aber nicht bereit, die Vorherrschaft der körperlichen Wahrnehmung über den Intellekt und das Gefühl einzugestehen. Ja, sie haben Angst vor ihrer Reptilienseele, vor ihren Bedürfnissen und Begierden, und versuchen sie zu vergessen, indem sie sie mit Lügenkonstrukten wie Liebe, Schuld, Haß, Mut, Treue und Ehre zukleistern.
Das ist die Philosophie von Mr. Edgler Vess. Er heißt seine reptilische Natur willkommen. Seine Großartigkeit liegt in einer einzigartigen Verschmelzung der Wahrnehmungen. Es ist eine funktionelle Philosophie, die ihren Anhängern sowohl verbietet, die Werte-Schwarzweißmalerei religiöser Menschen mitzumachen, als auch die peinlichen Widersprüche der Situationsethik vermeidet, die sowohl dem modernen Atheisten als auch dem Menschentypus zu eigen ist, dessen Religion die Politik ist.
Leben ist. Vess lebt. Das kommt unter dem Strich dabei heraus.
Während Vess auf dem Highway 101 in Richtung Norden fährt und den zweiten Hershey-Riegel ißt, sinnt er wieder einmal über die Ähnlichkeit zwischen der Beschaffenheit schmelzender Schokolade
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