Intensity
entgegen. Sie bellen noch immer nicht, denn er hat sie unterwiesen, Stille zu bewahren.
Normalerweise würde er ihnen erlauben, bei ihm zu bleiben, seine Gesellschaft zu genießen, den Tag mit ihm im Haus zu verbringen und sich sogar wie eine schwarzbraune Steppdecke neben ihn zu legen, während er den Nachmittag verschläft. Er würde mit ihnen schmusen und gurren, denn sie sind ja schließlich so brave Hunde gewesen. Sie haben ihre Belohnung verdient.
Doch die Frau in dem roten Pullover hält Mr. Vess davon ab, mit den Hunden zu verfahren, wie er es gewöhnlich täte. Sollte sie die Tiere bemerken, würde sie es vielleicht mit der Angst zu tun bekommen und im Wohnmobil ausharren.
Er muß der Frau genug Handlungsfreiheit lassen. Oder zumindest die Illusion davon.
Er ist neugierig darauf, was sie tun wird.
Sie muß irgend etwas bezwecken, irgendein Motiv für die seltsamen Dinge haben, die sie bislang getan hat. Jeder hat eine bestimmte Absicht.
Mr. Vess’ Absicht ist es, alle Bedürfnisse zu befriedigen, sobald sie entstehen, noch ungeheuerlichere Erlebnisse zu suchen, tief in Erfahrungen einzutauchen.
Welchen Zweck diese Frau auch immer zu verfolgen glaubt, Vess weiß, ihr wahrer Zweck ist es, seinen Absichten zu dienen. Sie ist eine herrliche Abwechslung, ein Bündel starker und exquisiter Erfahrungen in Menschenhaut, einzig zu seinem Vergnügen darin eingehüllt – ganz ähnlich wie ein HersheyRiegel in seiner braunsilbernen Verpackung oder eine SlimJim-Wurst in ihrer engen Plastikhülle.
Der letzte Dobermann verschwindet auf dem Weg zum Zwinger hinter der Scheune.
Mr. Vess geht durch das nasse Gras zu dem alten Blockhaus und steigt ein paar steinerne Stufen zur Veranda hinauf. Obwohl er die Mossberg trägt, versucht er ansonsten ganz unbekümmert zu wirken für den Fall, daß die Frau das Schlafzimmer am Ende des Wohnmobils verlassen hat und ihn durch ein Fenster beobachtet.
Den Schaukelstuhl hat er bis zum Frühling in die Scheune gestellt.
Mehrere Schnecken, die schon recht früh im Jahr hervorgekommen sind, testen die Luft mit ihren transparenten, gelatineartigen Fühlern. Auf ihrer seltsamen Suche schleppen sie ihre spiralförmigen Häuser mit sich und ziehen silberne Schleimspuren über die nassen Dielenbretter der Veranda. Mr. Vess achtet sorgsam darauf, nicht auf sie zu treten.
Ein Mobile hängt in einer Ecke der Veranda an dem Faszienbrett am Rand des mit Schindeln gedeckten Dachs. Es besteht aus achtundzwanzig weißen Muscheln und Seeschnecken, alle ziemlich klein, einige mit hübschem rosa Innern; die meisten sind spiralförmig, alle recht exotisch.
Das Mobile stellt kein gutes Windspiel dar, da die meisten Töne, die es erzeugt, unrein sind. Es begrüßt ihn mit einem scheppernden atonalen Stoß, doch er lächelt, weil es … nun ja, keinen sentimentalen, aber zumindest einen nostalgischen Wert für ihn hat.
Dieses schöne Stück Kunsthandwerk gehörte einst einer jungen Frau, die in einem Vorort von Seattle, Washington, lebte. Sie war Anwältin gewesen, zweiunddreißig Jahre alt und so erfolgreich, daß sie allein in einem Eigenheim in einem gehobenen Viertel wohnen konnte. Für eine Frau, die so hart war, daß sie sich in der brutalen Juristerei durchsetzen konnte, hatte sie ein überraschend verspieltes – ja glattweg mädchenhaftes – Schlafzimmer gehabt: ein mit Spitze und Fransen besetztes rosa Himmelbett mit rosa gemusterter Tagesdecke und gestärkten Borten, eine große Sammlung von Teddybären, Gemälde von englischen Landhäusern, an denen Winden wuchsen und die von üppigen Gärten mit Schlüsselblumen umgeben wurden, und mehrere Muschelmobiles.
Er hatte in diesem Schlafzimmer aufregende Dinge mit ihr angestellt. Dann hatte er sie mit dem Wohnmobil an so abgelegene Orte gebracht, daß er dort noch aufregendere Dinge mit ihr machen konnte. Sie hatte Warum? gefragt – und er hatte geantwortet: Weil ich das nun einmal tue. Das war die ganze Wahrheit und der einzige Grund gewesen.
Obwohl Mr. Vess sich nicht mehr an ihren Namen erinnern kann, fallen ihm bereitwillig zahlreiche andere Einzelheiten ein. Teile von ihr waren so rosa und glatt und wunderschön wie das Innere dieser baumelnden Muscheln gewesen. Besonders lebhaft erinnert er sich an ihre kleinen Hände, die fast so schlank und zart wie die eines Kindes gewesen sind.
Ihre Hände haben ihn fasziniert. Bezaubert. Er hat die Verletzlichkeit eines Menschen nie zuvor so intensiv gespürt wie bei ihr, als er ihre
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