Internat auf Probe
sich die dicke Reisetasche über die Schulter und klemmt sich ihre Bücherkiste unter den Arm. Mit der freien Hand schnappt sie nach dem Koffergriff. Mama legt ein flaches, in buntes Papier eingewickeltes Geschenk oben auf die Bücherkiste und macht ein besorgtes Gesicht.
„Ist das ganze Gepäck nicht zu schwer für dich, Carlotta?“
„Nö, kein Problem“, schnauft Carlotta, während sie sich bemüht, unter dem Gewicht nicht in die Knie zu gehen. „Ich schaff das schon.“
Mama streicht ihr über die Wange und wischt sich eine letzte Träne aus dem Augenwinkel.
„In zwei Wochen ist schon Besuchstag“, sagt sie und steigt ins Auto. „Spätestens dann sehen wir uns wieder.“
„Ja, toll“, ächzt Carlotta. „Ich freu mich. Bis dann, gute Fahrt.“
Ihre Mutter startet den Motor und legt den ersten Gang ein. Winkend rollt sie vom Parkplatz und reiht sich in die lange Schlange der abfahrenden Autos ein. Ein paar übermütige Väter hupen. Aus offenen Seitenfenstern kommen letzte Zurufe. Alle winken – bis auf Carlotta, die viel zu schwer bepackt ist und keine Hand frei hat.
„Na dann …“, murmelt sie und dreht sich um. „Auf geht’s!“
„Das Gepäck stellt bitte erst einmal hier in den Flur“, sagt Frau Heselein. „Unser Hausmeister Herr Blum wird euch nachher helfen, es in eure Zimmer zu tragen. Und jetzt kommt mit. Es gibt Mittagessen im Speisesaal. Ihr seid sicher hungrig.“
Ein paar Mädchen und Jungen nicken, und auch Carlotta hört plötzlich ihren Magen knurren. Seit dem Frühstück hat sie nichts mehr gegessen, und das ist Stunden her. Neugierig folgt sie den anderen in den Speisesaal. Obwohl sie ihre Mitschüler während der Begrüßung in der Aula und bei der Zimmerverteilung gesehen hat, kann sie die Gesichter noch nicht auseinanderhalten. Und die Namen hat sie sich auch nicht alle gemerkt.
Als sie sieht, dass im Speisesaal noch mehr Mädchen und Jungen aus anderen Klassen herumwuseln, stöhnt sie auf. Wie soll sie die jemals alle auseinanderhalten?
Drei ältere Mädchen fallen ihr auf, die ganz in Schwarz gekleidet sind, und ein Junge in einem knallbunten T-Shirt. Er hat lange Rastalocken und ein bisschen Ähnlichkeit mit einem struppigen Hund.
„Die Unter- und Mittelstufe hat gemeinsame Essenszeiten“, erklärt Frau Heselein. „Die Oberstufenschüler essen später. Sucht euch einen Platz aus. Wir haben keine feste Sitzordnung. Zum Frühstück, Mittag- und Abendessen gibt es Selbstbedienungsbüfetts.“ Sie zeigt auf einen langen Tresen. Dahinter kann Carlotta die Küche sehen, in der emsig geschnippelt und in großen Töpfen gerührt wird. Frauen in weißen Hosen und T-Shirts füllen das Büfett auf. Ein leckerer Duft nach gebratenem Fleisch, Gemüse und frischen Kräutern zieht durch den Saal.
„All you can eat!“, ruft ein blonder Junge. „Ist ja fast wie Urlaub im Club Mediterranée!“
Alle lachen. Sogar Manu verzieht das Gesicht zu einem schiefen Grinsen.
„Solange du dich an die Essenszeiten hältst, Brendan“, lächelt Frau Heselein, „kannst du so viel essen, wie du magst. Es gibt verschiedene Gerichte zur Auswahl, auch Vollwertkost und vegetarisch. Und falls ihr zwischendurch Hunger bekommt, haben wir einen kleinen Kiosk, an dem es Brötchen, Obst, Kuchen und Süßigkeiten gibt. Außerdem bekommt ihr dort Handykarten, Füllerpatronen, Schreibhefte und alles andere für den Notfall. Aber jetzt bedient euch. Guten Appetit.“
Alle laufen durcheinander, schnappen sich Tabletts und Besteck und suchen sich einen Platz.
Carlotta geht einfach hinter den anderen her, reiht sich in die Schlange ein und lässt sich von einer Köchin den Teller mit Braten, Kroketten, grünen Bohnen und Soße füllen.
Als sie sich umdreht, sind fast alle Tische schon besetzt. Sie will sich gerade auf den letzten freien Platz am Ende eines langen Tisches schieben, als sie sieht, dass Sofie ganz allein an einem Fensterplatz sitzt.
„Was soll’s“, murmelt Carlotta und schiebt sich durch die Reihen. „Immerhin wohnen wir zusammen.“
Sie lächelt Sofie zu, aber die verbirgt ihr Gesicht hinter einem Vorhang aus schimmernden Haaren und schaut kaum auf. Auf ihrem Teller liegen ein paar Salatblätter und eine halbe Tomate. In ihrem Glas perlt Mineralwasser. Hinter Carlotta summt jemand die Melodie aus der Diätwerbung: „Ich will so bleiben, wie ich bin …“
Carlotta dreht sich um. Vor ihr steht Manu und grinst. Ihr Tablett ist bis zum Gehtnichtmehr beladen.
„Noch ’n
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