Internat auf Probe
und einem taubstummen blonden Mädchen zu teilen, ist nicht gerade das, was sie sich von ihrem unfreiwilligen Internatsleben erträumt hat.
„Ich nehme das Bett an der linken Seite“, sagt Sofie und streicht sich eine Haarsträhne hinters Ohr. „Ist das in Ordnung für dich?“
Carlotta stutzt. Stumm ist Sofie nicht, zum Glück, aber was ist das für ein merkwürdiger Akzent?
„Kommst du zufällig aus Frankreich?“
„Non.“ Sofie schüttelt den Kopf und legt ihr Handtäschchen auf das Bett. „Ich komme aus Belgique, aus einer kleinen Stadt bei Brüssel.“
„Ach so“, murmelt Carlotta. „Aus Belgien …“
Während Sofie einen Handspiegel aus ihrer winzig kleinen Handtasche zieht und ihre sorgfältig gezupften Augenbrauen einer eingehenden Kontrolle unterzieht, fängt Manuela Bernberg leise an zu schnarchen.
Na, toll! Carlotta verdreht die Augen und denkt an die zweiwöchige Probezeit. Wie soll sie es mit diesen beiden merkwürdigen Mädchen so lange aushalten? Eine schnarchende Miesepetrine und eine Schönheitskönigin. Und sie, Carlotta, mittendrin. Zusammengepfercht in einem Zimmer, das kaum größer ist als ihr Kinderzimmer zu Hause. Du meine Güte! Das kann ja heiter werden.
Sie setzt sich aufs Bett, starrt aus dem Fenster in den blühenden Park und wartet mit klopfendem Herzen auf die nächste Katastrophe.
Als Frau Heselein wenig später das Zimmer betritt, unterbricht Manu ihr melodisches Schnarchkonzert. Auch Sofie beendet das Studium ihres makellosen Teints und lässt den kleinen Spiegel blitzschnell in ihrem Handtäschchen verschwinden.
„Gefällt euch das Zimmer?“, erkundigt sich die Lehrerin. „Wenn ihr es erst mit euren persönlichen Dingen eingerichtet habt, werdet ihr euch bestimmt wohl fühlen.“
Mit einem abfälligen Grunzen verzieht Manu das Gesicht. Frau Heselein hebt eine Augenbraue.
„Bitte kommt jetzt mit nach unten“, sagt sie, „um euch von euren Familien zu verabschieden und euer Gepäck zu holen. Anschließend gehen wir zusammen in den Speisesaal und danach in euren Klassenraum. Ich bin übrigens nicht nur eure Klassenlehrerin und Fachlehrerin für Englisch und Religion, sondern auch eure Hausmutter. Falls ihr Sorgen, Probleme oder Fragen habt, kommt jederzeit zu mir. Meine Wohnung liegt am Ende des Flurs.“
Carlotta und Sofie nicken gleichzeitig.
Manu knurrt: „Muss ich auch mit runter? Meine Familie ist schon weg. Die haben mich und mein Gepäck hier in der Pampa ausgesetzt und sich gleich wieder verfatzt. Die hatten keinen Nerv auf eine tränenreiche Abschiedszeremonie.“
Frau Heselein runzelt die Stirn. „Das ist sehr schade“, erwidert sie, „aber komm bitte trotzdem mit nach unten, Manuela. Wir wollen gemeinsam Mittag essen. Sicher möchtest du bei der Gelegenheit auch deine neuen Mitschüler kennenlernen?“
„Nö“, brummt Manu. „Da pfeif ich drauf. Lohnt sich auch gar nicht. Nächste Woche bin ich sowieso wieder weg.“ Sie wühlt sich umständlich aus ihrem Bett und gähnt, ohne sich die Hand vor den Mund zu halten.
Carlotta kann sehen, dass Frau Heselein sich nur mühsam beherrschen kann.
„Das werden wir sehen“, sagt die Lehrerin kühl. „Aber bis dahin hältst du dich bitte wie die anderen an die Hausordnung. Ich erwarte dich in fünf Minuten im Eingangssaal.“ Ohne ein weiteres Wort dreht sie sich um und verlässt das Zimmer.
Manu streckt ihr hinter ihrem Rücken die Zunge raus und murmelt: „Blöde Kuh!“
Mama weint beim Abschied. „Ach, Mäuschen …“, schnieft sie und drückt Carlotta an sich. „Wenn du es dir anders überlegst, ruf an. Du kannst jederzeit zu uns kommen, das weißt du. Steffen und ich würden uns sehr freuen. Und Lennart und Lorenz auch.“
Carlotta nickt und befreit sich aus der Umarmung. Sie findet Mamas Benehmen ein bisschen peinlich; immerhin stehen sie auf dem Schlossparkplatz und alle können sie sehen. Aber als sie sich umdreht, stellt sie fest, dass Mama nicht die Einzige ist, die Tränen vergießt. Fast an jedem Auto spielen sich mehr oder weniger dramatische und tränenreiche Abschiedsszenen ab. Nur Manu steht ganz allein auf der Schlosstreppe und beobachtet die anderen.
Die Ärmste, denkt Carlotta. Es muss traurig sein, wenn die Eltern sich nicht richtig von einem verabschieden.
Mama reicht ihren Koffer, die Reisetasche und eine kleine Kiste mit Büchern aus dem Kofferraum. Carlotta gibt ihr einen Kuss.
„Tschüss, Mama. Grüß Lennart und Lorenz von mir. Steffen auch.“ Sie hievt
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