Internat auf Probe
dem Bootshaus steht ein strohblonder Junge in Jeans und gestreiftem T-Shirt am Ufer. Er hält eine Angel ins Wasser und hat Ähnlichkeit mit Huckleberry Finn. Carlotta grinst. Ob Jonas wohl jemals einen Fisch fängt?
Solange der Spargel mit seinem Motorboot rumbrummt und dabei Kommandos durch sein Megafon blökt, bestimmt nicht, denkt sie kichernd. Der macht doch alle Fische scheu!
Als sie sich umdrehen will, dringt von irgendwoher leises Klavierklimpern herauf. Sofie hat erzählt, dass der Musikraum wieder trocken ist und dass sie endlich wieder Klavier spielen kann.
Die kleine Melodie gefällt Carlotta. Sie macht das Fenster ganz weit auf, damit sie die Musik an ihrem Schreibtisch hören kann. Mit einem kleinen Lächeln im Gesicht widmet sie sich wieder ihrem Brief:
Manu will später mal ein Tierheim leiten. Was Sofie werden will, weiß ich nicht. Ich tippe auf Model, weil sie so dünn ist und so wenig isst und andauernd vorm Spiegel rumhängt. Oder vielleicht Rechtsanwältin, weil sie so schlau ist? Egal, wir haben ja noch genug Zeit, um uns zu entscheiden. Wir sind schließlich erst in der Fünften.
Plötzlich fällt ihr ein, dass sie in der Bibliothek ein altes Buch entdeckt hat, in dem steht, wie Prinzensee zu seinem Namen gekommen ist. Das muss sie Katie unbedingt noch erzählen!
Ihr Füller fliegt über das Papier, als sie schreibt, dass vor Hunderten von Jahren zwei hübsche junge Prinzen im Schloss gelebt haben sollen, der eine blond, der andere schwarzhaarig, die sich eines Tages in ein und dasselbe wunderschöne Bauernmädchen verliebt haben. Doch das Mädchen, es hieß Marie, konnte sich nicht für einen von ihnen entscheiden. Sie war in beide Prinzen verliebt, und außerdem – das war das größte Problem! – hatte ihr Vater sie schon dem hässlichen alten Schmied versprochen.
Als Marie den Schmied tatsächlich heiraten musste, ist sie an gebrochenem Herzen gestorben. Die beiden Prinzen waren darüber so traurig, dass sie mit ihrem Segelboot auf den See hinausgefahren und in einem Sturm ertrunken sind.
Seitdem heißt Prinzensee Prinzensee. Und auf dem Schloss liegt ein düsterer Fluch.
Was für eine Geschichte!, denkt sie. In dem Buch steht weiter, dass die ruhelosen Seelen der unglücklichen Prinzen und des Bauernmädchens bei Vollmond manchmal durch die Gegend spuken. Zum Glück sind sie ihr bisher noch nicht begegnet. Das würde ihr gerade noch fehlen!
Sie wirft sich ein letztes Gummibärchen in den Mund und kichert, während sie den Brief beendet:
Weißt Du was? Hier ist es echt schön! Ich hab Freundinnen gefunden und fühl mich pudelwohl. Kannst Du Deine Eltern nicht mal fragen, ob Du auch nach Prinzensee darfst? Oder Du strengst dich in der Schule an und kriegst ein Stipendium, so wie Sofie. Das schaffst Du bestimmt! Du wolltest doch schon immer auf ein Internat gehen, oder? Mit Dir wär’s bestimmt noch viel lustiger!
Schreib bald zurück! Und vergiss die Gummibärchen nicht!!
Hdgdl, Deine Carlotta
PS: Ich ruf Dich bald an und erzähl dir alles noch mal ausführlich, okay? Bis dann!
Carlotta faltet den Brief zusammen und schiebt ihn in den Umschlag. Es wäre wirklich cool, wenn Katie auch auf Prinzensee leben würde. Dann könnten sie zusammen mit Manu und Sofie in einem Viererzimmer wohnen. Bestimmt hätten sie viel Spaß miteinander. Und wer weiß, vielleicht könnte Katie sogar die armen Seelen der beiden Prinzen und des Bauernmädchens von ihrem Fluch erlösen? Sie ist schließlich eine Expertin in romantischen Dingen – nicht nur, was Internatsgeschichten angeht.
Bevor Carlotta den Umschlag zuklebt, steckt sie noch ein paar Fotos dazu, die sie vor ein paar Tagen gemacht hat. Die Bilder sind richtig klasse geworden. Auf einem purzeln Smilla, Meggie und Mo durcheinander, auf einem anderen sitzen zwei Gummibärchen auf einer Bank im Schlosspark. Auf dem dritten ist Jonas mit seiner Angel. Und auf dem vierten sind Manu, Sofie und sie selbst, Arm in Arm vor dem alten Gewächshaus am See. Jonas hat es gemacht.
Carlotta betrachtet das Foto versonnen, bevor sie es zu den anderen steckt. Sie klebt eine Briefmarke auf den Umschlag und kritzelt Katies Adresse dazu. Dann schnappt sie sich ihre Kamera und flitzt aus dem Zimmer. Wenn sie sich beeilt, erwischt sie den Postboten noch, der nachmittags den Briefkasten leert. Dann hat Katie den Brief vielleicht schon morgen.
„Platz da!“, ruft sie und schliddert durch den Flur. „Hier komm ich!“
„Hey, hast du sie noch alle?“, zischt
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