Internat auf Probe
ohne weitere nennenswerte Zwischenfälle. Frau Heselein führt sie in den Klassenraum, verteilt Stundenpläne, Bücher und die Hausordnung sowie eine lange Liste der verschiedenen Freizeit-AGs.
„Ihr habt zwei Wochen Zeit, um euch verbindlich für eine Arbeitsgemeinschaft anzumelden“, sagt sie. „Bis dahin dürft ihr in die verschiedenen Kurse hineinschnuppern, um auszuprobieren, was euch am meisten liegt.“
„Muss man da unbedingt mitmachen?“, fragt Manu, ohne die Liste eines Blickes gewürdigt oder sich gemeldet zu haben. „Mich interessiert dieser Freizeitkram nicht die Bohne, und außerdem lohnt es sich auch gar nicht für mich.“
„Ach ja, du bist ja gar nicht so lange hier“, flötet Nadine und fügt ein gemurmeltes „Gott sei Dank!“ hinzu.
„Stimmt genau, Barbie“, gibt Manu zurück.
Die Jungs lachen.
„Die Teilnahme an mindestens einer AG ist Pflicht“, fährt Frau Heselein fort, ohne auf das Geplänkel zu achten. „Es wird erwartet, dass ihr euch entsprechend engagiert und einbringt.“
Carlotta mustert die lange Liste. Es sind wirklich tolle Sachen dabei: Reiten, Segeln, Computer, Töpfern, Hockey und vieles mehr.
„Was machst du?“, fragt sie Sofie.
Die Belgierin schüttelt den Kopf und seufzt. „Ich weiß nicht. Ich denke, irgendetwas mit Musik.“ Sie spricht es Müsiek aus, und Carlotta muss grinsen.
„Spielst du ein Instrument?“
Sofie nickt. „Oui, Klavier und Klarinette.“
„Toll“, meint Carlotta. Sie selbst ist total unmusikalisch. Die Blockflöte, die Oma ihr vor zwei Jahren zu Weihnachten geschenkt hat, staubt in einer Schreibtischschublade vor sich hin, nachdem Carlotta ihr nur schiefe Töne entlocken konnte. Notenlesen ist nicht gerade ihre Stärke.
Manu hat ihre Liste zusammengerollt und benutzt sie als Fernrohr. Zwecklos, sie zu fragen, welche AG sie nimmt. Wie es der Zufall – oder das Schicksal? – will, sitzt Carlotta genau zwischen ihr und Sofie, wobei Manu darauf bestanden hat, den Platz am Fenster zu bekommen.
„Falls es mal brennt“, hat sie gebrummt und den Fensterplatz mit Beschlag belegt.
Carlotta ist es ziemlich egal, wo sie sitzt. Hauptsache, nicht zwischen Nadine und Simone, die ständig die Köpfe zusammenstecken und kichern und tuscheln. Worüber die wohl die ganze Zeit reden? Bestimmt über Mode und Kosmetik und solche Sachen, denkt Carlotta.
Beide Mädchen tragen auffallend teure Markenklamotten, sind geschminkt und wirken viel älter als die anderen aus der Klasse. Außerdem scheinen sie sich schon gut zu kennen. Carlotta nimmt sich vor, ihnen so gut es geht aus dem Weg zu gehen. Die sind ihr viel zu affig.
Zum Glück scheinen die anderen aus der Klasse ganz nett zu sein, besonders die Jungs. Brendan macht einen lustigen Eindruck und erzählt ständig Witze. Er hat einen auffälligen Akzent, aber anders als Sofie. Wo er wohl herkommt?
Carlotta findet alles unheimlich spannend und hat darüber fast vergessen, dass sie doch eigentlich traurig sein und Heimweh haben sollte. Komisch, seit sie sich von Mama verabschiedet hat, hat sie überhaupt nicht mehr an zu Hause gedacht.
Kein Wunder, denkt sie. Hier hat man irgendwie ständig was um die Ohren. Ob das so bleibt?
Als sie abends in ihrem Bett liegt, ist sie von der Existenz eines Zeitbeschleunigungsknopfes überzeugt. Wie sonst kann es sein, dass sie den ersten Tag im Internat schon hinter sich hat?
Es war spannend und aufregend zugleich, und Carlotta hat das Gefühl, als würde sich ihr Gehirn entgegen dem Uhrzeigersinn im Kreis drehen. So viele neue Eindrücke – das muss man erst mal verkraften!
Das Geschenk von Mama zum Abschied ist ein hübsch gerahmtes Foto von der ganzen Familie. Carlotta stellt es auf ihren Nachttisch und zwinkert den Zwillingen müde zu, bevor sie ihr Buch zuklappt und das Licht ausmacht.
Sofie scheint schon zu schlafen. Nur Manu liegt noch wach auf ihrem Bett. Sie liest im Schein einer Taschenlampe in einem Buch, mampft einen Schokoriegel nach dem anderen und lässt das Einwickelpapier zu Boden segeln, wo es sich zu drei verschiedenfarbigen Socken, einer leeren Chipstüte und einer umgekippten Colaflasche gesellt. Die Musik aus ihrem MP3-Player ist so laut, dass Carlotta sich die Decke über die Ohren ziehen muss, um sie nicht mehr zu hören.
„Gute Nacht“, sagt sie leise. Keine Reaktion. „Gute Nacht!“, wiederholt sie lauter.
„Nacht!“, ruft Manu zurück. Von Sofie kommt nur ein leises Seufzen.
Bevor Carlotta sich überlegen kann,
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