Internat auf Probe
andächtige Stille aus. Der Sturm hat sich gelegt. Nur hin und wieder pfeift noch eine einzelne Böe um das Glashaus und rüttelt an den Scheiben. Regentropfen trommeln auf das Dach, und in den Rohren und Regenrinnen rund um das alte Gewächshaus gluckert und plätschert es leise.
Die Mädchen sitzen dicht nebeneinander. Die Kälte, den Sturm und ihre nassen Sachen haben sie vollkommen verdrängt.
Es ist total friedlich, denkt Carlotta. Richtig schön! Heimlich wirft sie den anderen einen Blick zu.
„Warum können wir uns eigentlich nicht immer so gut vertragen?“, fragt Manu genau in diesem Augenblick, als hätte sie Carlottas Gedanken gelesen.
„Ich weiß nicht“, sagt Sofie leise. „Vielleicht, weil wir zu verschieden sind und uns nicht richtig kennen?“
„Das ist aber doch eigentlich kein Grund, oder?“, meint Carlotta. Sie macht ein nachdenkliches Gesicht.
„Nee“, sagt Manu.
„Non“, bekräftigt Sofie.
Sie wechseln einen Blick und fangen gleichzeitig an zu lachen.
Carlotta durchwühlt ihre klammen Jackentaschen. Irgendwo muss noch eine halbvolle Tüte Lakritzschnecken stecken. Hoffentlich hat der Regen sie nicht total aufgeweicht.
„Tada!“, macht sie, als sie die zerknitterte Tüte in das Licht der Taschenlampe hält. „Wer möchte?“
„Ich!“, ruft Manu sofort.
Carlotta hält ihr die Tüte hin. Auch Sofie greift hinein.
„Eigentlich scheint ihr ja ganz in Ordnung zu sein“, schmatzt Manu, „aber ihr müsst mir trotzdem was versprechen.“
„Was denn?“ Carlotta zieht die Augenbrauen zusammen.
„Dass ihr mich nicht verratet“, antwortet Manu. „Niemand darf von den Welpen erfahren, klar? Wenn rauskommt, dass ich sie hier verstecke, nehmen sie sie mir garantiert weg. Dann bringen sie sie doch noch um. Oder sie stecken sie ins Tierheim.“ Ihr Gesicht ist ernst.
Carlotta und Sofie nicken sofort.
„Schwört ihr’s?“, fragt Manu.
„Ich schwör’s!“, sagt Carlotta und hebt feierlich die rechte Hand.
„Ich auch!“, macht Sofie es ihr nach.
„Gut“, sagt Manu. „Wenn ihr den Schwur brecht, seid ihr auf ewig verflucht, klar? Dann habt ihr nur noch Pech, bis an euer Lebensende!“
Manus Gesicht ist so ernst und ihre Stimme so eindringlich, dass Carlotta davon überzeugt ist, dass ihre Drohung wahr werden würde. Vielleicht kann Manu hexen? Oder sie kennt jemanden, der Voodoo mit Hühnerknochen und Stoffpüppchen macht? Wer weiß?
Manu ist alles zuzutrauen.
„Ist doch klar“, versichert Carlotta. „Wir verpfeifen dich nicht!“
„Niemals!“, fügt Sofie hinzu.
Manu nickt zufrieden, dann betrachtet sie liebevoll ihre schlafenden Ziehkinder.
„Seid ihr eigentlich freiwillig nach Prinzensee gekommen?“ Sie zieht die Nase kraus. „Oder warum seid ihr in einem Internat gelandet?“
Sofie überlegt nicht lange. Sie wickelt ihre Lakritzschnecke ab, rollt sich die Schnur um den Finger und nickt. „Ich wollte unbedingt nach Prinzensee. Die Schule hat einen guten Ruf in Belgien. Allerdings …“ Sie macht eine kleine Pause, bevor sie weiterspricht. „Ich hab euch doch von meinen Eltern erzählt, die ein Restaurant in der Nähe von Brüssel haben. Das Restaurant ist nicht sehr groß. Meine Eltern verdienen nicht viel und könnten das Internat niemals bezahlen. Deshalb hab ich eine Prüfung gemacht und ein Stipendium bekommen. Ich bin, wie sagt man? Nach oben begabt?“
„Es heißt hochbegabt“, sagt Carlotta.
„Wow!“ Manu stößt einen kleinen Pfiff aus. „Und du hast ein Stipendium für hier? Das ist ja krass! Mann, ich hatte keine Ahnung, dass ich mit einer echten Intelligenzbestie unter einem Dach wohne! Und dann noch im selben Zimmer!“
Sofie lacht. „Ach, es ist nicht so besonders“, wehrt sie ab.
„Und du?“, fragt Manu Carlotta. „Bist du auch nach oben begabt oder so was?“
„Nee“, kichert Carlotta. „Eher das Gegenteil. Ich bin hier, weil mein Vater für ein Jahr ins Ausland musste. Er dreht einen Dokumentarfilm über den Klimawandel.“
„Cool“, findet Manu. „Aber warum bist du nicht bei deiner Mutter geblieben?“
„Weil meine Eltern geschieden sind“, seufzt Carlotta. „Und weil meine Mutter eine neue Familie hat, in der ich mich nicht so wohl fühle. Ich dachte, bevor ich da hingehe, versuch ich’s lieber mal hier. Ist ja nur für ein Jahr“, fügt sie hinzu. „Sobald mein Vater zurück ist, geh ich wieder nach Hause.“
„Aber was ist mit dir?“, will Sofie von Manu wissen. „Warum bist du ins Internat
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