Internat Lindenberg - Achtung, es spukt
Überschrift „Vermisste Perso n – wer kann Angaben machen“ Folgendes:
„Herr Mortimer Gibson nebst Gemahlin, Besucher aus Norwich, Großbritannien, haben uns gebeten, folgende Mitteilung abzudrucken: Seit dem Zehnten dieses Monats wird ihre Tochter Emily vermisst. Besagtes Fräulein verabschiedete sich am Morgen besagten Tages von seinen Eltern mit dem Hinweis, es beabsichtige Blumen für sein Herbarium zu sammeln, und wurde letztmals gesehen, als es vom Gasthof zur goldenen Gans kommend die Rheinpromenade Richtung Süden ging.“
Leonie war wie elektrisiert. Das war der Name, nach dem sie gesucht hatte! Sie musste wissen, wie die Geschichte weiterging. Die Zeitungsmappe umfasste das gesamte zweite Halbjahr 1857, doch sie fand darin nicht mehr den geringsten Hinweis auf die Angelegenheit. Ungeduldig schlug sie das zweite Exemplar auf. In diesem waren die Zeitungen des zweiten Halbjahrs 1858 abgeheftet. Also musste es ein weiteres halbes Jahr keine Neuigkeiten über Emily gegeben haben. Inzwischen hatte sich Leonie an die altmodische Schrift gewöhnt und kam noch schneller voran.
Da! 27 . August 1858! Das war es. „Vermisste Weibsperson aufgefunden“ verkündete eine Überschrift auf der dritten Seite dieser Ausgabe. Darunter stand ein ziemlich langer Artikel und Leonie las. Zuerst mit Interesse, dann mit einem flauen Gefühl im Magen und schließlich mit nacktem Entsetzen. „Eine schaurige Entdeckung“, so begann der Text und eine schaurige Entdeckung machte nun auch Leonie.
Zwei vierzehnjährige Jungen waren beim Versuch, ein Falkennest auszurauben, auf den Turm der Ruine des heutigen Internats geklettert. Ein waghalsiges Unternehmen, da die Holztreppe, die hinaufführte, letzten Sommer eingestürzt war. Dort oben hatten sie zwar keine Falken, dafür aber ein Skelett gefunden. Die herbeigerufene Polizei kam zu dem Schluss, dass es sich um die Überreste der vor über einem Jahr verschwundenen Emily Gibson handeln musste. Anscheinend war sie auf den Turm, damals noch ein bei Besuchern beliebter Aussichtspunkt, geklettert und genau in dem Moment, als sie sich oben befand, war die morsche Treppe in sich zusammengestürzt. Die Ruine lag ziemlich abgelegen und die Ärmste, die alle ganz woanders vermuteten, musste dort verhungert oder verdurstet oder vom Blitz erschlagen worden sein. Eine wahre Tragödie.
Eine Tragödie schon, aber wahr? Hier lag der Haken. Denn Leonie hatte kaum zu Ende gelesen, als Herr Wegener wieder zu ihr kam.
„Das ist das Schrecklichste, was ich je gelesen habe“, sagte Leonie mit zitternder Stimme. Herr Wegener nickte.
„Ich habe dich gewarnt. Aber ich will nicht verschweigen, dass es für die ganze Geschichte auch noch eine andere Erklärung gibt“, sagte er. Leonie blickte ihn fragend an.
„Es ist sehr umstritten, ob die Geschichte wahr ist oder nicht“, erklärte er. „Ich habe hier mein ganzes Leben verbracht und ich kenne meine Pappenheimer“, sagte er nachdenklich. „Ich will nicht sagen, die Bewohner dieser Stadt hier würden über Leichen gehen, um Touristen anzulocken. Aber dass sie Leichen erfinden, um welche anzulocken, das traue ich ihnen zu.“
Leonie begriff nicht, worauf er hinauswollte. Herr Wegener erklärte es ihr: „Die wahrscheinlichste Theorie ist: Diese Emily ist mit einem Liebhaber durchgebrannt, und nachdem man hier nichts mehr von ihr gehört hat, haben ein paar findige Journalisten die Sache mit dem Skelett in der Ruine erfunden. Zumindest steht fest, dass nach der Veröffentlichung dieser Geschichte die Ruine zur Touristenattraktion geworden ist.“
Leonie blieb skeptisch, war aber ein bisschen beruhigt. Sie wollte schließlich selbst einmal Journalistin werden. Ob es stimmen konnte, dass Journalisten sich einfach so die wildesten Geschichten aus den Fingern sogen? Aber wenn Herr Wegener das sagte, war wohl etwas dran. Und wenn die Geschichte erfunden war, konnte die Erscheinung auch nicht der Geist von Emily Gibson sein. Natürlich nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass es sich wirklich um ein Gespenst handelte. Und das glaubte sie schließlich nicht. Obwohl Leonie sich langsam selbst fragte, warum sie eigentlich neuerdings jeden Abend vor dem Schlafengehen unter ihr Bett schaute.
Na ja, es war gar nicht so einfach, einen kühlen Kopf zu bewahren. Die einzige Person, die gegen den Geisterwahn völlig immun war, blieb Hanna.
Leonie hatte es jetzt eilig, die sensationellen Entdeckungen mit ihren Freundinnen zu teilen und versammelte
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