Internet – Segen oder Fluch
zu tun hat.
Es gibt auch Narrative, die sich von beiden Seiten betrachten lassen, die also je nach Perspektive eher internetbegeistert oder -skeptisch daherkommen. In der 1996 er «Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace» des technolibertären Aktivisten John Perry Barlow, die als eines der ersten Internet-Manifeste gilt, findet sich der Satz: «Eure Rechtsvorstellungen von Eigentum, Redefreiheit, Persönlichkeit, Freizügigkeit und Kontext treffen auf uns [die Bewohner des Cyberspace] nicht zu.» Fünfzehn Jahre später bekommen ebenjene Bewohner des Cyberspace Muskelzuckungen im Gesicht, wenn das ins Negative gewendete Barlow’sche Narrativ in Diskussionen auftaucht: «Das Internet darf kein rechtsfreier Raum sein!», das Ausrufezeichen hörbar mitgesprochen als Zeichen staatsbürgerlicher Empörung. Das Argument anzuführen, gilt als Zeichen der Ahnungslosigkeit.
Narrative sind immer auch Verkürzungen, und als solche verleiten sie dazu, selbst für komplexe Probleme einfache Lösungen anzubieten. «Killerspiele machen aus harmlosen Kindern massenmordende Amokläufer» ist eine solche anekdotische Erzählung. In der Tat gehört es zu den politischen Folgeritualen von Amokläufen, sofortiges Verbot von «Killerspielen» zu fordern – entgegen dem aktuellen Forschungsstand. Schon der Begriff «Killerspiel» ist für sich genommen eine extrem verdichtete Narration, ein sogenanntes Mem. Richard Dawkins schlug dieses Kunstwort 1976 vor, er prägte damit einen linguistischen Begriff, der die Verbreitung von Ideen und Gedankengängen nach dem Beispiel von Genen veranschaulicht. Meme sind demnach kleine weitererzählbare Sinneinheiten, aus denen größere Narrative gebildet werden. Darin liegt eine Gefahr von Narrativen: Sie werden selten hinterfragt, weil man sie schon so oft gehört hat. Auch die Gewöhnung an eine Behauptung ist eine Form von Wahrheit – von gefühlter Wahrheit allerdings. Dabei kann kausal verbunden werden, was vielleicht zusammengehört oder auch nicht.
Zu solchen selbstverknüpften Kausalitäten gehört die Verschwörungstheorie, die so empörungsentzündlich wirkt wie Napalm auf einem trockenen Reisighaufen. Auf der Netzkonferenz re:publica 2010 wies der Autor Daniel Kulla darauf hin, dass sich Verschwörungstheorien nicht zwingend um Aliens, die CIA oder die Illuminaten drehen müssen – sondern überall dort zu finden sind, wo naheliegende oder absichtlich geweckte Assoziationen zu Beweisen werden. Kulla zufolge ist sogar eines der erfolgreichsten Meme der deutschen Internet-Szene, der Name «Zensursula» [12] , bereits verschwörungstheoretisches Denken. Dieses Kofferwort aus
Zensur
und
Ursula
(von der Leyen) weist in seiner Kürze gleich zwei typische Merkmale von Verschwörungstheorien auf: zum einen die Fokussierung einer politischen Debatte auf nur eine Person, zum anderen die Unterstellung, dass es – anders als öffentlich erklärt – eigentlich um den Wunsch nach Zensur gehe.
Verschwörungstheorien sind Narrative zum Selberzusammensetzen, ein Erzählungspuzzle, in dem assoziativ verbunden wird, was man vorher herbeigeahnt hat. Auch netzkompetente, sich für mündig haltende Bürger sind anfällig für verschwörungstheoretisches Denken, weil es eine Möglichkeit darstellt, ohne fachliche Kompetenz Informationsbrocken und komplexe Narrative zu verarbeiten. Wahrscheinlich kann das Netz sogar besonders dazu beitragen, Verschwörungstheorien zu entwickeln und zu verbreiten, weil sich darin wirklich jede Information und Meinung wie auch deren Gegenteil finden lässt. Den Rest erledigt die selektive Wahrnehmung des verschwörungsaffinen Netznutzers. Sie blendet inkompatible Informationen aus und setzt die passenden zum Wunschmosaik der gefühlten Realität zusammen. Aber natürlich ist nicht jede geäußerte Ahnung gleich ein Hinweis auf einen Hut aus Alufolie [13] .
Assoziationen und Vermutungen wirken zunächst noch bereichernd, weil sie alte Gewissheiten erschüttern und die Datenbasis erweitern. Sie können aber leicht ins Verschwörungstheoretische kippen, wenn sie zu selektiv unter Ausblendung von Gegenargumenten aufeinandergeschichtet werden. Vielleicht eignet sich die Unterscheidung zwischen der guten und der bedenklichen Assoziation auch als Handlungsempfehlung für den Umgang mit Metaphern und Narrativen, mit Sprache und Wissen überhaupt. Denn natürlich wäre es utopisch, diese Denkmuster aus den Diskussionen vollkommen verbannen zu wollen. Zu tief sind sie im
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