Internet – Segen oder Fluch
Satz, der auch das Problem der Narrative auf den Punkt bringt: «[Das] Prinzip des Mythos: er verwandelt Geschichte in Natur.» In einer Diskussion funktionieren Narrative sehr ähnlich. Sie verwandeln Erzählungen in (gefühlte) Tatsachen. Sie kaschieren die Unterschiede zwischen subjektiven Eindrücken und Anekdoten – und messbaren Fakten oder beweisbaren, verallgemeinerbaren Zusammenhängen. Wer sich in Diskussionen von Narrativen leiten lässt, argumentiert unsachlich, ohne es zu bemerken.
Ein häufiges Narrativ lautet:
Anonymität im Internet verschlechtert die Qualität der Diskussion
. Wie die meisten Narrative tritt auch dieses Scheinargument in vielen Farben und Formen auf, so soll die Anonymität etwa am Gepöbel von Trollen oder am Mobbing schuld sein. In der Realität trifft diese simple, kausale Verkettung in dieser Form nicht zu. Im Mai 2012 stellten Wissenschaftler der Eidgenössischen Technischen Fachhochschule Zürich eine Studie über anonyme Chats vor, für die sie mehr als zweieinhalb Millionen Äußerungen ausgewertet hatten. Sie kommen zum Schluss, dass das Verhalten im Chat trotz Anonymität den Sitten in anderen, nicht anonymen Kommunikationskanälen stark ähnelt. So sei der Anteil der negativen Kommentare sehr gering, selbst Antworten auf die übelmeinenden Beiträge von «Stänkerern» fielen eher positiv aus. Die Forscher gehen deshalb davon aus, dass sich Menschen auch im Schutz der Anonymität weitestgehend an soziale Normen halten. Eine statistische Auswertung von Disqus – mit sechshundert Millionen monatlichen Nutzern eine der meistgenutzten Kommentarplattformen im Netz – ergab Anfang 2012 , dass sowohl anonyme und pseudonyme Kommentare wie auch Kommentare unter Echtnamen konstant etwa zehn Prozent negative Äußerungen enthalten. Die Pseudonymnutzer allerdings hinterließen um ein Vielfaches mehr Kommentare und trugen damit entscheidend zu den Diskussionen bei. Zudem halten auch Klarnamen im Netz unangenehme Leute kaum davon ab, unangenehm zu sein.
FAZ
-Herausgeber Frank Schirrmacher twitterte im April 2012 : «Nicht die Anonymität, sondern der ansteigende Grad der NICHT -anonymen Hass-Kommentare und -Mails, von Sarrazin bis Grass, ist beunruhigend.»
Anfang 2010 legte eine Facebook-Gruppe schnell an Anhängern zu, die die Wiederinbetriebnahme des Konzentrationslagers Mauthausen forderte [10] . Sie kam auf über 11 000 Mitglieder, bevor sie gelöscht wurde. Ohnehin tritt die überwiegende Mehrheit der Facebooknutzer unter ihrem echten Namen auf, so auch in dieser Gruppe. Die Situation ist also komplizierter, als das Anonymitäts-Narrativ glauben lässt. Es gibt sowohl weitverbreitetes anonymes und pseudonymes Wohlverhalten im Internet wie auch schwer erträgliches Verhalten unter Klarnamen. Trotzdem wird immer wieder argumentiert, dass die Abschaffung der Netz-Anonymität gewiss auch das Ende problematischer Nutzerbeiträge oder gar noch schlimmerer Dinge mit sich bringen werde. Nach dem terroristischen Massenmord von Anders Breivik in Norwegen forderte Bundesinnenminister Friedrich im August 2011 laut
Spiegel
das Ende der Anonymität im Internet. Er implizierte damit, dass sich solche Verbrechen so in Zukunft verhindern oder zumindest erschweren ließen: «In der demokratischen Auseinandersetzung streiten wir mit offenem Visier auf Basis unserer verfassungsmäßigen Spielregeln. Warum sollte das im Internet anders sein? Ich weiß, dass mir das in der Netzgemeinde wüste Beschimpfungen einbringen wird, aber warum müssen Fjordman [11] und andere anonyme Blogger ihre wahre Identität nicht offenbaren?»
Und nicht nur politische Entscheider folgen Narrativen, ohne je nach ihrer Richtigkeit zu fragen. Vic Gundotra, Chef des sozialen Netzwerks Google+, hatte in dessen Anfangsphase einen Zwang zum Klarnamen eingeführt, «damit hier ein positiver Umgangston herrscht». Friedrich und Gundotra verkörpern, davon darf man ausgehen, entgegengesetzte Pole der Internetnutzung – und doch argumentieren beide mit einem ähnlichen, falschen Narrativ. Solche verkehrten Kurzerzählungen sind also keineswegs netzferneren Leuten vorbehalten, im Gegenteil. Ein anderes netzoptimistisches Narrativ lautet zum Beispiel: «Das Internet verbessert die Welt.» Über diesen Satz könnte man ganze Bücher schreiben, wenn man nichts Besseres zu tun hätte. «Das Internet vergisst nichts» wäre ein Beispiel für ein Narrativ, das zwar relativ wertneutral daherkommt, aber trotzdem wenig mit den Fakten
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