Internet – Segen oder Fluch
im Internet zu beschreiben. Polly hatte sich von einem Apple-Mousepad inspirieren lassen, auf dem ein Surfer auf einer Welle abgebildet war, darunter war «Information Surfer» zu lesen. In Deutschland wird für das Internet bis heute die Verkehrsmetaphorik mit am häufigsten verwendet. Ihren ersten großen Popularisierungsschub verdankte sie Helmut Kohl. Im März 1994 antwortete der damalige Bundeskanzler auf die Frage, was er in Sachen Datenautobahn zu tun gedenke, dass Autobahnen in Deutschland unter der Oberhoheit der Länder stünden. Datenautobahn war die schlichte Übersetzung von «Information Highway», ein Bild, das im US -Wahlkampf 1993 – Bush senior gegen Bill Clinton – größere Verbreitung gefunden hatte – nicht zuletzt, weil Clintons Vizepräsidentschaftskandidat Al Gore einen Anteil an der Entstehung des Internets in der heutigen Form hatte. [7]
Mit einer Metapher wie Datenautobahn entsteht um das Wort herum eine ganze Vorstellungswelt, die alle weiteren Gedanken zum gleichen Thema erheblich beeinflussen kann. Der Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein schrieb in seinen «Philosophischen Untersuchungen» in den 1940 er Jahren: «Die Idee sitzt gleichsam als Brille auf unsrer Nase, und was wir ansehen, sehen wir durch sie. Wir kommen gar nicht auf den Gedanken, sie abzunehmen.» Zum Glück gibt Wittgenstein seinen Lesern schon ein paar Seiten später ein Mittel an die Hand, um mit diesem Problem umzugehen: «Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache.»
Das einzige Mittel, um Diskussionen über das Internet führen zu können, ist also ein abgeschlossenes Philosophiestudium samt Promotion über – haha, nein, es geht natürlich auch unterhaltsamer und weniger zeitaufwendig, zum Beispiel durch das Lesen dieses Buchs. Um sich gegen die metaphorische Verhexung des Verstandes zur Wehr setzen zu können, muss man zunächst begreifen, dass Sprachbilder die Einstiegsdroge der Welterklärung sind, auch zur Erklärung des Internets: Am Anfang fühlt es sich super an, aber wenn man nicht höllisch aufpasst, kommt man nicht mehr davon los. Für erste, tastende Schritte des Verstehens eignen sich Metaphern gut. Das Problem entsteht, wenn man sich nach diesen ersten Verständnisschritten nicht davon löst. Dann treten sich Metaphern wie Kaugummi im Teppich des Gehirns fest, egal wie beknackt sie sind [8] . Schließlich diskutiert man keine konkreten Probleme mehr, sondern nur noch ihre metaphorischen Ableitungen – und metaphorische Diskussionen finden immer in Teufels Küche statt. Entgegen der anderslautenden Kapitelüberschrift ist das Internet nämlich nicht nur kein rotes Auto, sondern überhaupt gar kein Auto.
Als 2009 die hitzige Netzsperrendebatte [9] in vollem Gange war, kam das Bild des Stoppschilds auf. Die Wirkmacht dieser Metapher war so groß, dass sogar vorgeschlagen wurde, im Netz konkret ein Stoppschild zu zeigen, falls eine Seite gesperrt würde. Weil Netzsperren in den Medien als Stoppschilder dargestellt wurden – da so etwas wie eine Netzsperre ja eigentlich gar nicht darstellbar ist –, kam der naheliegende Gedanke auf: Im Straßenverkehr ist ein Stoppschild sinnvoll und notwendig – wieso sollte dann ein Stoppschild im Internet schädlich sein? [2] Auf diese Weise sind Metaphern auch immer wirkungsvolle Instrumente der Beeinflussung durch Public Relations. Jack Valenti, der langjährige Chef des US -Filmverbandes MPAA (Motion Picture Association of America), hatte in den 1970 er Jahren im Kampf Hollywoods gegen den Videorecorder eines der berühmtesten Sprachbilder der Lobbyismus-Geschichte entwickelt: «Der Videorecorder ist für amerikanische Filmproduzenten und die amerikanische Öffentlichkeit, was der Würger von Boston für die alleinstehende Frau ist.»
Besonders die Debatte um Urheber- und Verwertungsrechte im Internet (siehe Kapitel 14 ) wird derart metapherndurchtränkt geführt, dass allein die Begriffe schon ein Weltbild samt Universallösung installieren, noch bevor das erste Argument ausgetauscht ist. Denn jemand, der Metaphern verwendet, kann gezielt die Abwägung zwischen Für und Wider erschweren. Die Liste der Vorteile des Würgers von Boston ist eben ausgesprochen überschaubar. Eine geschickt gewählte Metapher kann einer Seite die Deutungshoheit über den ganzen Diskurs verschaffen; ganz nebenbei fließt auch noch eine Bewertung ein: Piraterie, Raubkopie, Contentmafia. So wird ein einzelnes Wort zum
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