Internet – Segen oder Fluch
analysiert der Innovationsforscher Clayton M. Christensen in «The Innovator’s Dilemma: Warum etablierte Unternehmen den Wettbewerb um bahnbrechende Innovationen verlieren», welche Faktoren darüber entscheiden, ob Firmen Umbrüche bewältigen. Kurz zusammengefasst sind es folgende: Das Neue sieht für die Nutzer eines vorhandenen Produkts immer erst mal schlechter aus. Dampfschiffe waren zunächst langsamer als Segelschiffe, MP 3 s klingen schlechter als CD s, frühe Digitalkameras konnten mit analogen nicht mithalten. Aber solange das neue Produkt in irgendeiner Hinsicht billiger, praktischer oder attraktiver ist als das alte, kann es einen bisher nichtexistenten Markt, bislang unerreichbare Käuferschichten erschließen. Es hilft nicht, die vorhandenen Kunden nach ihren Wünschen zu befragen, weil sie ebenfalls konservativ am bisherigen Produkt hängen. Die Abnehmer der frühen Großrechner waren eine völlig andere Zielgruppe als die späteren Käufer kleiner PC s für den Privatgebrauch. Die Menschen, die in den fünfziger Jahren die ersten Transistorradios kauften, waren keine Audiophilen, die sich für verbesserte Klangqualität interessierten, sondern wollten ein transportables Radio. Außerdem neigen Kunden dazu, die Zukunft der Produkte selbst völlig falsch einzuschätzen. Hätte man 2003 jemanden gefragt, ob er ein Handy mit Touchscreen wollte, hätte der normale Kunde an den groben und unempfindlichen Touchscreen des Geldautomaten gedacht und gesagt: «Was soll ich denn mit so einem untauglichen Quark?»
Unternehmen, die von disruptiven Neuerungen profitieren wollen, dürfen sich also gerade nicht auf das verlassen, was ihre Kunden wollen oder nicht wollen. Sie müssen sich an neue Käufergruppen wenden, die in der Innovation nicht eine schlechtere Version des bisherigen Produkts sehen, sondern ihre Eigenschaften von vornherein zu schätzen wissen. Da in diesen neuen Märkten zunächst einmal weniger Geld zu verdienen ist als in den bisherigen Geschäftsfeldern, wird ein etabliertes Unternehmen nicht einfach seine achtundzwanzig kostspieligen Hierarchieebenen über das neue Produkt stülpen können. Christensen rät zu kleinen, selbständig agierenden Ausgründungen aus dem vorhandenen Unternehmen, deren Struktur den anfangs geringen Gewinnen auf dem neuen Feld besser angepasst ist.
Aber auch wenn man einen Trend richtig erkannt hat, kann sich die einzelne Innovation als Sackgasse erweisen. Im 1910 erschienenen Band «Die Welt in 100 Jahren» kommt kaum eine Zukunftsvision ohne Zeppeline aus. Dass das Fliegen hundert Jahre später eine wichtige Rolle spielen würde, war eine korrekte Vorhersage, dass der Himmel heute voller Zeppeline hängt, nicht. Im Privatleben neigt der Mensch dazu, schnell wieder zu vergessen, dass er einmal behauptet hat, dem Marmeladenbrot mit Marmelade auf
beiden
Seiten gehöre unbedingt die Zukunft. Im Nachhinein hat er dann aber alle Entwicklungen frühzeitig und treffsicher vorhergesehen, die jeweiligen Branchen wollten nur einfach nicht auf ihn hören. Und wenn er seinerzeit nicht gerade durch wichtigere Dinge abgelenkt gewesen wäre, hätte er zweifellos Millionen mit Aktien der richtigen, damals noch kleinen Unternehmen verdient. Von dieser selektiven Vergesslichkeit sind auch Unternehmen nicht frei. Die
ZEIT
berichtete über die Forschungen des Technikhistorikers Reinhold Bauer zum Thema «fehlgeschlagene Innovationen»: «Als Reinhold Bauer für seine Habilitationsarbeit deutsche Unternehmen anschrieb, konnte sich dort niemand an Misserfolge erinnern. Manche versicherten, trotz intensivster Recherche sei es nicht gelungen, in der eigenen Firmengeschichte einen Fehlschlag zu entdecken (beziehungsweise die entsprechenden Unterlagen seien leider alle vernichtet).» Bauer kommt zu dem Schluss, dass fünfundachtzig bis fünfundneunzig Prozent aller Entwicklungen nie zur Marktreife gelangen, «Erfolg ist die Ausnahme, Scheitern die Regel».
Wir können den Erfolg des Neuen nur sehr begrenzt vorhersehen, und nur energische Beschönigung der Vergangenheit lässt uns selbst und die Mitmenschen das Gegenteil glauben. Wenn er dann einmal da ist, haben wir in der Regel wenig dazu beigetragen. Es ist wenig vorausschauend, jetzt auf der Vergangenheit herumzutrampeln und dabei «Wir sind das Neue! Das Neue ist toll!» zu rufen. Es geht immer auch etwas verloren, an dem die Herzen netter Menschen hingen. Schneller, als man denkt, steht man in diesem Prozess auf der anderen
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