Internet – Segen oder Fluch
Es gibt kein Naturgesetz, das besagt, dass für jeden verschwindenden Arbeitsplatz ein neuer entsteht. Außerdem profitieren von den neuen Arbeitsplätzen selten diejenigen, deren alter Beruf gerade durch die Automatisierung verschwunden ist. Was ist, wenn zwar neue Arbeitsplätze zum Ausgleich für die entfallenden entstehen, diese neuen Arbeitsplätze aber in China liegen? Was, wenn sie zwar im eigenen Land entstehen, aber für die ehemaligen Beschäftigten der Vorgängerbranche unerreichbar sind, weil sie ganz andere Qualifikationen erfordern?
«Die neuen Arbeitsplätze stehen nur einer kleinen Elite offen.»
Im 18 . Jahrhundert hätte man mit Verwunderung auf die Behauptung reagiert, dass es ohne Lese- und Schreibfähigkeiten eines Tages schwierig werden würde, auch nur einen Hilfsarbeiterjob zu bekommen. Um 1900 galt dasselbe für die Fähigkeit, eine Kraftdroschke zu lenken, um 1970 war es der berufliche Umgang mit Computern, heute sind wir beunruhigt, wenn jemand behauptet, Programmierkenntnisse seien das Lesen und Schreiben von morgen.
«Mein Geschäftsmodell wird es immer geben, das besagt das Riepl’sche Gesetz.»
Das Riepl‘sche Gesetz sagt, dass niemals ein Medium durch ein anderes vollständig ersetzt wird, und bisher scheint es recht zu behalten. Allerdings bezog sein Erfinder Wolfgang Riepl sich damit in seiner Dissertation von 1913 auf das Nachrichtenwesen der alten Römer, unter besonderer Berücksichtigung der Signalfeuer-Türme. Und ob das Vorgängermedium vollständig verschwindet oder in einer stark reduzierten, hochspeziellen, womöglich rein künstlerisch genutzten Form erhalten bleibt – so wie heute die Vinylplatte oder die Handweberei –, ist eher nebensächlich für diejenigen, deren Arbeitsplätze damit ebenso stark reduziert werden.
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6. Faster, Pussycat!
Von der Beschleunigung
24 bilder pro sekunde? das kann das gehirn doch gar nicht verarbeiten.
Michael Seemann/@mspro, Twitter, 23 . September 2009
Die digitale Welt ist zweifellos schnell. Sie fühlt sich jedenfalls schnell an. Zu schnell, sagen die einen. Schon schnell, aber nicht zu schnell, sagen die anderen. Im unter Netznerds beliebten Comic
xkcd
war 2010 davon die Rede, dass sich Twitterbotschaften schneller verbreiteten als Erdbebenwellen. Im August 2011 wurde der Witz wahr, an der Ostküste der USA ereignete sich ein Erdbeben. Tweets aus der Nähe des Epizentrums erreichten Leser in New York, bevor auch dort die Erde bebte. [32]
Tempo und Beschleunigung des digitalen Informationsstroms geben häufig Anlass zur Beschwerde, denn der reißende digitale Informationsfluss macht vermutlich irgendetwas mit der Gesellschaft. Die Kritik an der digitalen Beschleunigung hat in den letzten Jahren vor allem die Wirkung auf das Gehirn in den Blick genommen. Der Netzkritiker Nicholas Carr bemerkte 2010 an sich selbst besorgniserregende Veränderungen: «Ich wollte ständig mit der Welt verbunden sein. So … verwandelte mich das Internet nun offenbar in eine Art Hochgeschwindigkeits-Datenprozessor, einen menschlichen HAL . Ich vermisste mein altes Gehirn.»
Es scheint, als habe diese Beschwerde noch jede neue gesellschaftsprägende Technik begleitet – weil das jeweilige neueste Medium nun aber wirklich im Bereich der unerträglichen, ja schädlichen Geschwindigkeit und Informationsflut angekommen sei. Im ausgehenden 20 . Jahrhundert waren Kapitalismuskritik und Beschleunigungskritik eng verbunden. Mit der Allgegenwart des Internets hat sich die Beschleunigungskritik entpolitisiert, sie ist heute weniger kapitalismus- und stärker technologiebezogen.
Wenn im 19 . und 20 . Jahrhundert die Beschleunigung der Welt kritisiert wurde, dann stand neben Medientechnologien vor allem der Verkehr im Mittelpunkt. In «Emil und die Detektive» beschrieb Erich Kästner 1929 die städtische Beschleunigung aus der Sicht eines Landbewohners: «Diese Autos! Sie drängten sich hastig an der Straßenbahn vorbei; hupten, quiekten, streckten rote Zeiger links und rechts heraus, bogen um die Ecke; andere Autos schoben sich nach. So ein Krach! Und die vielen Menschen auf den Fußsteigen! Und von allen Seiten Straßenbahnen, Fuhrwerke, zweistöckige Autobusse!» Neben der Verkehrsgeschwindigkeit ist auch die Entwicklung der Arbeitsmaschinen für die Beschleunigung verantwortlich. In den Stuttgarter Bosch-Werken führte eine Rationalisierungswelle um 1907 zu einem neuen Akkordsystem. Daraus entstand der
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