Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Internet – Segen oder Fluch

Internet – Segen oder Fluch

Titel: Internet – Segen oder Fluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Passig , Sascha Lobo
Vom Netzwerk:
Werte, moralische Entrüstung über bestimmte Lebensweisen und die Einhegung individueller Freiheiten durch politische Eingriffe sind neben der CDU heute auch die Grünen zuständig. Winfried Kretschmann, der grüne Ministerpräsident Baden-Württembergs, sagte 2011 in einem Interview in der
Süddeutschen Zeitung
, konservativ sein bedeute, «die Werte zu pflegen, die schon immer durch die Zeiten hindurch galten», der Konservativismus sei bei CDU und CSU «zur Attitüde verkommen». Und weiter: «Meiner Meinung nach sind die Grünen in Baden-Württemberg inzwischen die einzige im echten Sinne konservative Partei. Wir wollen die Schöpfung bewahren und gute alte Werte ebenso.» Natürlich herrschte noch nie Einigkeit darüber, welche Werte es genau sind, die «schon immer durch die Zeiten hindurch galten».
    Diese verworrenen Zustände spiegeln sich in den Internetdebatten wider. Wer mit welchen Argumenten für oder gegen welchen Fortschritt eintritt, ergibt sich nicht von allein aus der sonstigen Lebensführung oder der bisher gewählten Partei. Auch hier gibt es Fraktionen, darunter viele Anhänger der Piratenpartei, die sich progressiv fühlen, aber für die Bewahrung des Bestehenden oder Wiederherstellung der Zustände von früher eintreten. Ein Beispiel ist die Debatte um die Privatsphäre.
     
    Immerhin haben die Anhänger der These, dass (zumindest auf diesem oder jenem Gebiet) langfristig alles schlechter oder besser wird, eine Gemeinsamkeit: Beide glauben an eine lineare Entwicklung in eine bestimmte Richtung. Diese Meinung wird nicht von allen geteilt. Ein Vertreter einer Gegenposition ist der britische Sozialphilosoph John Gray [28] . Gray zufolge ist der seit der Aufklärung populäre Glaube an den sozialen Fortschritt aus einer bastardisierten Version des christlichen Erlösungsglaubens entstanden. In der babylonischen, chinesischen, römischen und griechischen Antike herrschte dagegen der Glaube an einen zyklischen Verlauf der Geschichte vor, und viele Religionen kommen ganz ohne eine Erzählung aus, die auf ein Ziel hinsteuert. Für Hindus und Buddhisten ist das menschliche Leben sogar nur ein Augenblick im Kreislauf der Dinge. Nur weil das Christentum auf die Idee mit der Erlösung gekommen sei, dass also am Ende alles gut werde, habe sich die Vorstellung eines allgemeinen Fortschritts in den Köpfen festsetzen können.
    Die humanistische Zuversicht, dass Menschen ihre biologische Neigung zu Aggression, Grausamkeit und Zerstörung überwinden können, ist für Gray nur die weltliche Version der christlichen Idee einer Sonderstellung des Menschen in der Natur. Dieser Glaube ist Voraussetzung für die Annahme, auf den Gebieten der Ethik oder der Politik seien ähnlich dauerhafte Fortschritte zu erwarten, wie sie die technische Weiterentwicklung für den Lebensstandard ermöglicht hat. Während die Dampfmaschine nicht mehr so leicht aus der Welt zu schaffen ist, war es für die USA einfach, im Umgang mit Terrorismusverdächtigen im 21 . Jahrhundert zur Folter zurückzukehren. «Wissen kann man kumulieren, ethische Verbesserungen nicht», sagt Gray in einem
Spiegel
-Interview 2010 . Der Fortschrittsglaube ist für ihn nichts anderes als die christliche Heilserwartung im weltlichen Gewand, ein «säkularer Monotheismus», der zu ideologischen Grabenkriegen und zu unschönen Taten im Dienste der guten Sache führt. «Wann immer ein Staatsmann sich als Instrument der Vorsehung begreift, ist das Schlimmste zu befürchten.»
    Kritiker halten Gray unter anderem entgegen, Reaktionäre hätten zu allen Zeiten versucht, den sozialen Fortschritt mit dem Argument aufzuhalten, Demokratie oder die Gleichberechtigung der Frau seien wider die menschliche Natur. Aber auch wenn man die Meinung des britischen
Telegraph
teilt, Grays Buch «Politik der Apokalypse» sei «kompletter Quatsch» und könne «kaum absurder sein, wenn Reptilien drin herumkrauchten» [6] , kann man der Gray-Debatte doch entnehmen, dass es unterschiedliche und miteinander unvereinbare Ansichten über den Fortschritt gibt. Der Fortschritt ist kein Naturgesetz wie die Schwerkraft, und man kann in Diskussionen nicht so einfach die «Das ist der Fortschritt! Da müsst ihr durch!»-Karte zücken.

[zur Inhaltsübersicht]
    5. Disruption ist kein Kindergeburtstag
    Vom Entstehen und Vergehen
    Viele Kinos müssen wegen Einführung des Tonfilms und Mangel an vielseitigen Programmen schließen!
    Tonfilm ist wirtschaftlicher und geistiger Mord!
    Seine

Weitere Kostenlose Bücher