Internet – Segen oder Fluch
Seite, und dann tut einem die frühere Verurteilung des Alten ebenso leid wie alles, was man einst in jugendlicher Hartherzigkeit über Bäuche, Haarausfall und Falten geäußert hat. Nur wenige Menschen können sich wie geschickte Surfer ein bisschen länger auf dem Wellenkamm des Fortschritts halten, und auch ihnen gelingt das nur in manchen Bereichen ihres Lebens.
Die Menschen, deren uneinsichtiges Kleben am Ewiggestrigen man anprangert, sind Opfer einer Entwicklung, für die sie wenig können. Wer sich also einredet, die Mitarbeiter der Musik-, Buch- oder Zeitungsbranche hätten sich ihre Probleme durch jahrelange Untätigkeit oder Begriffsstutzigkeit selbst eingebrockt, der versichert sich damit in erster Linie selbst, dass ihm nicht morgen dasselbe passieren kann. Denn wenn nicht das sich immer weiterdrehende Rad der Veränderung schuld ist, sondern die Fortschrittsfeindlichkeit anderer Menschen, dann hat man selbst als aufgewecktes, zukunftszugewandtes Geschöpf ja nichts zu befürchten.
Die Wahrheit sieht anders aus: Diese vermeintlich am Gestrigen klebenden Menschen sind nicht wesentlich unflexibler oder denkfauler als man selbst. Wenn Sie nicht bei jedem Einkauf aufs Neue die Vor- und Nachteile aller Marmeladensorten gegeneinander abwägen, wenn Sie in festen Beziehungen am Wochenende lieber zu Hause bleiben, als auszugehen, wenn Ihre Lieblingsband dieselbe ist wie vor fünf Jahren und wenn Ihre freiwillige berufliche Weiterbildung ungefähr zehn Minuten pro Woche einnimmt, dann ist es Ihr eigenes Spiegelbild, auf das Sie da mit dem Finger zeigen. Häufen Sie kein schlechtes Karma durch Verhöhnung derer an, die ein paar Tage früher als Sie selbst herausgefunden haben, dass die schöpferische Zerstörung nicht nur das zerstört, was man sowieso nicht leiden konnte.
Alle Branchen durchlaufen immer wieder Phasen der Disruption. Die Branche gibt es danach vermutlich immer noch, aus der Faustkeilmanufaktur wird lediglich die Rüstungsindustrie, aus der schlesischen Heimweberei die Textilherstellung in Bangladesch. Aber weder einzelne Personen noch ganze Unternehmen können sich darauf verlassen, dass sie weiterhin Teil dieser Entwicklung sein werden. Die Telegraphie brachte Mitte des 19 . Jahrhunderts eine klassische Nerdkultur hervor, nur wenige Spezialisten beherrschten die Technik und die damit einhergehenden sozialen Gebräuche. Schon nach wenigen Jahrzehnten wurde das Telegraphieren dank technischer Vereinfachungen zu einer Hilfstätigkeit, die keine besonderen Vorkenntnisse erforderte und viel schlechter bezahlt wurde. Schließlich verschwand es ganz.
Es gibt Anzeichen dafür, dass der eigene Beruf gerade von solchen Vorgängen zerlegt und neu zusammengesetzt wird. Wenn Sie selbständig sind, bekommen Sie weniger Geld für dieselbe Arbeit als früher, wenn Sie angestellt sind, regnet es Entlassungen und «Umstrukturierungen». Auftraggeber und Auftragnehmer verhalten sich immer mehr wie verfeindete Lager. Warten Sie nicht darauf, dass es von alleine wieder besser wird oder der Staat rettend eingreift. Wenn Sie über fünfzig sind, hält das wackelige Gebilde mit etwas Glück noch, bis Sie in Rente gehen. Sind Sie jünger, sollten Sie weiterziehen. Auf rationaler Ebene lässt sich nicht viel gegen die Unannehmlichkeiten der Disruption ausrichten. Im Hinduismus ist der Gott Shiva für die schöpferische Zerstörung zuständig. Vielleicht hilft die Einrichtung eines Hausaltars, auf dem Sie Shiva hin und wieder eine Kerze oder ein veraltetes Gadget zum Opfer bringen.
Nicht so gute Argumente
«Die Automatisierung wird uns demnächst alle arbeitslos machen.»
Arbeitsplätze fallen schon immer technischen Neuerungen zum Opfer. Durch die Einführung des Buchdrucks wurden in kirchlichen Institutionen ganze Schreiberabteilungen wegrationalisiert – nicht nur dort, wo man bisher Handschriften illuminierte, die heute in Museen unter Glas liegen, sondern vor allem in der Verwaltung, wo Ablassbriefe und andere Formulare von Hand geschrieben wurden. Zum Ausgleich entstehen in anderen Bereichen neue Arbeitsplätze, vielleicht ermöglicht die Innovation der Branche erst die Expansion, sodass die Beschäftigtenzahl sogar wächst. Das war etwa im 19 . Jahrhundert bei der Einführung der Schnellpresse im Buchdruck der Fall, die die preisgünstige Buchproduktion für den Massenmarkt erlaubte.
«Für die verschwindenden Arbeitsplätze entstehen mindestens genauso viele neue.»
Kann sein, muss aber nicht.
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