Internet – Segen oder Fluch
später vorübergehend sprichwörtliche Begriff «Boschtempo». An der Werkbank wurde die immer schnellere Produktionstechnik mit spürbar geringerer Begeisterung aufgenommen als in den Büros über der Fabrikhalle.
Joachim Radkau stellte in seinem Buch «Das Zeitalter der Nervosität – Deutschland zwischen Bismarck und Hitler» (Hanser, 1998 ) eine große These auf: gegen Ende des 19 . Jahrhunderts habe sich eine «von Nervosität geprägte Grundhaltung» entwickelt, die schließlich im Ersten Weltkrieg gemündet habe. Eine Art Modekrankheit kam auf, die Neurasthenie, eine Nervenschwäche oder nervöse Reizbarkeit, die Radkau direkt mit der Industrialisierung und dem gesellschaftlich-technologischen Wandel verbindet. Sigmund Freud glaubte 1887 , dass «Neurasthenie die allerhäufigste Krankheit in unserer Gesellschaft» sei.
Auch vorher schon wurden die Beschleunigung der Welt und ihre psychischen Folgen intensiv diskutiert. Der Nationalökonom Gustav Schmoller, einer der Urväter der sozialen Marktwirtschaft, schrieb 1873 : «Immer schneller soll es gehen. Immer hastiger stürzt sich das junge Geschlecht in die Bahn des Lebens. Keine Minute verlieren ist die Losung; das ganze Leben gleicht einem dahinbrausenden Eisenbahnzug.»
1868 hielt der New Yorker Geschäftsmann William E. Dodge eine Rede darüber, dass die Beschleunigung der Geschäftsvorgänge durch die Telegraphie kein reiner Segen sei. Täglich würden jetzt Berichte über die wichtigen Weltmärkte veröffentlicht, die Kunden ständig per Telegramm auf dem Laufenden gehalten. Anstatt wenige große Warentransporte jährlich zu organisieren, müsse der Kaufmann nun ständig aktiv sein, mit fernen Geschäftspartnern korrespondieren, schon nach Wochen über Liefervorgänge Bescheid wissen, von denen er früher monatelang nichts erfahren habe. «So wird er in ständiger Aufregung gehalten, ohne Zeit für Ruhe und Erholung.» Nach einem anstrengenden Arbeitstag geht der Kaufmann nach Hause und möchte im Kreise seiner Familie bei einem späten Abendessen die Geschäfte vergessen, aber da erreicht ihn ein Telegramm aus London, der arme Mann muss sein Essen hinunterschlingen, um Antwort zu geben. Will er seine Familie ernähren, bleibt ihm gar nichts anderes übrig, «Er
muss
sich des Telegraphen bedienen.»
Und schon vor der Einführung des Telegraphen prägte die Geschwindigkeit das Wirtschaftsleben. Joachim Radkau berichtet, wie die frühe Industriegesellschaft Anfang des 19 . Jahrhunderts eine Vielzahl von zusammengesetzten Begriffen für Waren und Dienstleistungen hervorbrachte, die das Wort «schnell» enthielten: Schnellbleiche, Schnellgerberei, Schnellseifensieder, Schnellpost, Schnellpresse. Im Jahr 1772 schrieb der Mathematiker und Aphoristiker Georg Christoph Lichtenberg in einem Brief an seinen Verleger: «… unter uns, ich glaube, ich habe die Hektik» – Hektik und das «hektische Fieber» galten zu Lichtenbergs Zeit als Krankheit der nervlichen Anspannung.
Noch früher haftete schon dem gedruckten Buch etwas bedrohlich Hastiges an, jedenfalls aus der Perspektive der jeweiligen Zeitgenossen. Der Zisterziensermönch Conrad Leontorius empfand um 1500 den aufgekommenen Buchdruck als viel zu hektisch. Leontorius schreibt von «der mannigfaltigen und verwerflichen Hetze des [Druckens], die fast für alle oberstes Gesetz ist». Die Klagen über die Beschleunigung des Lesens hatten sich schon vorher gehäuft. Es kann als sehr wahrscheinlich gelten, dass die Erfindung des Rades zu massiven Beschwerden über die immense Beschleunigung in der damaligen Fußgängergesellschaft geführt hat.
Leicht ließe sich lachen über die technologiekritischen Bremser und ihr Geschwindigkeitslamento. Würden nicht auf der anderen Seite die Beschleunigungseuphoriker ebenso vehement und subjektiv argumentieren. Im Januar 2011 veröffentlichte der industrienahe Netzkolumnist Sascha Lobo auf
Spiegel Online
einen Beitrag mit dem Titel «Plädoyer für die Beschleunigung». Darin spottete er billig: «Aber Entschleunigung stinkt. Dahinter steht der reaktionäre Fetisch der Langsamkeit. […] Beschleunigung ist wie die Effizienzsteigerung unbedingter Teil des Fortschritts.»
Es handelt sich dabei nur bedingt um die zugespitzte Meinung eines Möchtegern-Provokateurs. Vielmehr ist das Lob der Beschleunigung in der Smartphone-Ära zu einer Art Pflichthaltung der Netzavantgarde geworden. Kritikern hält man entgegen, sie sollten sich mal nicht so anstellen, oder
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