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Internet – Segen oder Fluch

Internet – Segen oder Fluch

Titel: Internet – Segen oder Fluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Passig , Sascha Lobo
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Konservenbüchsen-Apparatur klingt kellerhaft, quietscht, verdirbt das Gehör und ruiniert die Existenzen der Musiker und Artisten!
    Darum: Fordert gute stumme Filme! Fordert Orchesterbegleitung durch Musiker! Fordert Bühnenschau mit Artisten!
    Lehnt den Tonfilm ab!
    Aus einem Flugblatt der Internationalen Artisten-Loge e.V. und des Deutschen Musiker-Verbands, um 1929
    Wo etwas Neues in die Welt kommt, da muss etwas anderes beiseiterücken. Alle heute existierenden Elemente im Universum [29] sind auf Kosten des Wasserstoffs entstanden. Wo eine Wiese ist, da kann kein Wald sein. Wo mehr Aufklärung ist, da ist weniger Religion. Wer eine Kippfigur betrachtet, sieht nur entweder das Kaninchen oder die Ente, und während man das Internet betrachtet, kann man kein gedrucktes Buch lesen. Die steigenden Mieten in Trendstadtteilen verdrängen ärmere Bewohner, und wenige Minuten später beklagen die neuen Trendstadtteilbewohner, dass man vor lauter Touristen ja schon nicht mehr vor die Tür gehen kann. Die einzige Ausnahme von dieser Regel sind Steckernetzteile und Adapter: Ständig wachsen neue nach, man darf aber auf keinen Fall die alten wegwerfen.
    Wenn eine neue Technologie nicht nur ein existierendes Produkt etwas besser oder billiger macht, sondern die Spielregeln einer ganzen Branche verändert, bezeichnet man das in der Wirtschaftstheorie als «Disruption» oder «Schöpferische Zerstörung» [30] . Dieser Begriff enthält schon das ganze Dilemma: Das Schöpfen wird in Volkshochschulkursen gelehrt, das Zerstören ist weniger beliebt. In den letzten Jahren wird das Problem der Disruption vor allem am Beispiel der Zeitungen diskutiert, die gerade die Auswirkungen des Internets zu spüren bekommen [31] . Die Musikindustrie hat die Auseinandersetzung bereits hinter sich, in der Buchbranche beginnt sie gerade erst, und es zeichnet sich ab, dass unter den nächsten Austragungsorten die Universitäten sein werden.
    Von den kleineren disruptiven Innovationen hört man außerhalb der betroffenen Branchen nicht so viel, aber auch sie krempeln ganze Industrien um. Als Diskettenlaufwerke immer kleiner wurden, gelang es den Herstellern der 14 -Zoll-Laufwerke nicht, sich im Markt für 8 -Zoll-Laufwerke zu etablieren, die 8 -Zoll-Hersteller scheiterten am 5 , 25 -Zoll-Laufwerk, und deren erfolgreiche Produzenten schafften den Sprung zum 3 , 5 -Zoll-Laufwerk nicht.
    Berufe wandeln sich, seit es Berufe gibt. In der frühen Neuzeit klagten Kleriker, es sei ja wohl sinnlos geworden, zu predigen, wenn jeder die Heilige Schrift zu Hause habe und selbst darin lesen könne. Im 18 . und 19 . Jahrhundert kam es zu Weberaufständen, als das deutsche Weberhandwerk und die Heimweberei durch in- und ausländische Billiganbieter unter immer stärkeren wirtschaftlichen Druck gerieten. In England war die Zerstörung von Webstühlen durch aufgebrachte Arbeiter so beliebt, dass sie 1812 unter Todesstrafe gestellt wurde. Landarbeiter protestierten in den 1830 er Jahren gegen die Dreschmaschine, und Nagelschmiede aus Mittweida zerstörten 1848 eine Nagelfabrik. Es wäre ein Fehler, in diesen Protesten nur engstirnige Technikfeindlichkeit oder umgekehrt ein lobenswertes, wenn auch am Kapitalismus gescheitertes Eintreten für «menschlichere» Produktionsweisen zu sehen. Es ging nicht primär um eine Ablehnung der neuen Maschinen, sondern – ein aus der Gegenwart bekanntes Problem – um den Erhalt des eigenen Arbeitsplatzes. Protestiert wurde auch gegen die Vernichtung von Branchentraditionen durch neue Organisationssysteme wie die Fabrik, gegen das sich ausbreitende Prinzip der ungezügelten Konkurrenz, und nicht zuletzt fand man die neuen Produkte genau wie heute häufig schlechter als die alten.
     
    Wenig überraschend ist, dass Neuerungen vor allem von denjenigen für segensreich gehalten werden, die von ihnen profitieren oder hoffen, das in Zukunft tun zu können. Diese Hoffnung ist insbesondere bei jenen beliebt und berechtigt, die am Anfang ihres Berufslebens stehen. Zum einen ist man dann mit den bisherigen Gepflogenheiten einer Branche ohnehin nicht besonders vertraut und hat daher keinen Anlass, ihnen nachzutrauern. Zum anderen bedeutet die Unlust der etablierten Kräfte, sich mit neuen Techniken oder Strategien zu befassen, eine bessere Auftragslage oder Einstellungschancen für Anfänger, die die Vorteile des Neuen erkennen. Das ändert sich im Laufe einiger Jahre: Dann hat jeder Erfahrungen in seinem Beruf gesammelt und hängt an

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