Internet – Segen oder Fluch
nicht, was wahr ist und was falsch, sie kennen die Interessen nicht hinter der Auswahl, sie kapitulieren vor der schieren Fülle und langweilen sich über unattraktive Präsentationen mit flauen Bildern und irritierender Werbung. Die meisten Bürger haben weder Zeit noch Lust, stundenlang nach der Wahrheit zu suchen.» Und es ist tatsächlich anstrengend, in den vielen geäußerten Meinungen vielleicht nicht gerade «die Wahrheit» zu finden, aber doch zumindest etwas nicht durch und durch Falsches.
Eine einfache Lösung gibt es nicht, auch wenn hin und wieder jemand eine entwirft, wie der französische Schriftsteller Louis-Sébastien Mercier, der sich 1771 das Leben im Jahr 2440 ausmalte. In der französischen Nationalbibliothek findet er zu seiner Überraschung nur noch vier kleine Bücherschränkchen vor. Der Bibliothekar erklärt ihm: «Mit dem Einverständnis aller haben wir alle Bücher, die wir als seicht, nutzlos oder gefährlich erachteten, auf einem weiträumigen, ebenen Platz zusammengetragen … Diesen ungeheuren Haufen haben wir angezündet, als ein Sühneopfer, das wir der Wahrheit, dem guten Geschmack und dem gesunden Verstande brachten.» Vorher haben «kluge Köpfe … das Wesentliche aus tausend Foliobänden herausgeholt, das sie dann in einem kleinen Duodezbändchen zusammengefasst haben».
Die Annahme, dass ein zuverlässiges Expertenkomitee das Wahre, Gute und Schöne korrekt identifizieren könnte und es eigentlich am besten wäre, wenn der Rest gar nicht existierte, steckt unausgesprochen hinter vielen Diskussionsbeiträgen. Es wäre zweifellos praktisch, wenn die Welt so funktionierte, aber bisher sieht es nicht gut aus für das Mercier-Modell. Was dem einen Fachmann ein wichtiger neuer Forschungsbeitrag, das ist dem anderen ketzerischer Unfug, und die kulturelle Revolution des einen ist dem anderen der Niedergang der Künste. Selbst wenn die Experten einer Epoche übereinstimmen, ist die Nachwelt unangenehm oft anderer Meinung. Herman Melvilles heute weltberühmter Roman «Moby-Dick» erhielt bei Erscheinen vernichtende Rezensionen, verkaufte sich miserabel und beendete Melvilles literarische Laufbahn. Das Buch, das Melvilles damaligen Ruhm begründete, «Taipi», kennen dafür heute nur noch Spezialisten. Was in den fünfziger Jahren des 20 . Jahrhunderts als «Schmutz und Schund» galt, erzielt heute bei Comicsammlern Höchstpreise und wird in Universitätsseminaren erforscht. Die bereits seit dem 16 . Jahrhundert immer wieder vorsichtig erwogene Theorie einer Kontinentaldrift wäre in Merciers Welt vermutlich auf dem Scheiterhaufen für Quatschwissenschaft gelandet. Erst in den 1960 er Jahren konnte sich die Idee allgemein durchsetzen.
Man kann die Welt nicht einfach in zwei Sorten von Menschen teilen, den Experten das Wort überlassen und die Laien zum Schweigen verurteilen: In jedem Menschen stecken ein oder zwei Experten für bestimmte Themen und neben ihnen sehr viele Laien. Die Angelegenheit wird erst recht nicht einfacher dadurch, dass sich die persönliche Sicht, auf welchem Gebiet man Experte ist und wo man nur so herummeint, vorsichtig ausgedrückt, nicht immer mit der Ansicht der Außenwelt deckt. Weil das Problem die Welt nicht erst seit gestern beschäftigt, gibt es verschiedene Lösungsansätze. Einige davon sollen im Folgenden vorgestellt werden.
Erst auswählen, dann (manches) veröffentlichen
Redaktionen und Verlage lehnen mehr Texte ab, als sie drucken. Das liegt nicht nur daran, dass viele unaufgeforderte Einreichungen davon handeln, dass der Autor das Perpetuum mobile erfunden oder Einstein widerlegt hat, sondern auch an der Begrenztheit der Ressourcen: Ein Verlag hat nicht beliebig viel Personal, in Bibliotheken und Buchhandlungen haben nicht alle Texte Platz, und in der Zeitung schon gar nicht. Die Menge der Veröffentlichungen auf Papier war noch nie dadurch begrenzt, wie viel Auswahl die Leser gerade noch verkraften, denn dann hätte in den letzten 1500 Jahren nichts Neues erscheinen dürfen. Die begrenzenden Faktoren waren Geld, Material und Platz.
Diese Knappheit bringt automatisch Auswahlkriterien hervor, die in einem Wechselspiel von Angebot und Nachfrage ausgehandelt werden. Es spricht viel dafür, dass dabei – neben Zufall, persönlichen Vorlieben, redaktionellen Leitlinien und finanziellen Erwägungen – ein Prinzip mitentscheidet, das mit Qualität nur bedingt zu tun hat: Allzu gern kopiert man erfolgreiche Konzepte. Im 18 . Jahrhundert
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