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Internet – Segen oder Fluch

Internet – Segen oder Fluch

Titel: Internet – Segen oder Fluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Passig , Sascha Lobo
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oder falsche Etiketten vergeben werden, hat aber verschiedene Vorteile. Die Nutzer brauchen keine komplizierte Einweisung, niemand muss hinter ihnen herräumen, wenn sie etwas falsch einsortieren, und die Suchbegriffe werden von denselben Leuten vergeben, die später auch die Suche verwenden. Wer einen Copyshop sucht, muss also nicht unter «Lichtpauserei» nachsehen, wie das in den Gelben Seiten lange der Fall war.
     
    Manche zukünftige Linderungsverfahren werden technischer Natur sein, andere werden die Form neuer Angewohnheiten haben, wie die Fähigkeit, Informationsströme entspannt an sich vorbeiziehen zu lassen. An einigen Stellen ist zumindest bereits klar, dass Bedarf an neuen Techniken besteht, zum Beispiel fehlt eine einfache Möglichkeit, Dinge wiederzufinden, von denen man nur noch weiß, dass man sie
irgendwo
im Netz gelesen hat. Meist aber können wir heute gerade erst erahnen, welche Form das Problem überhaupt hat, für das jemand eine Lösung finden müsste. Zukünftige Leser dieses Buchs werden sich vielleicht nicht mehr vorstellen können, dass es einst keine Argupedia gab, die den Verlauf häufig geführter Debatten verzeichnet: «Wie, Großmutter, alle mussten in jeder Diskussion wieder ganz von vorn anfangen?» – «Ja, mein Kind, wir hatten ja damals nichts.»
    Dass neue Bewältigungstechniken auftauchen werden, hat nicht nur Vorteile: Befürworter eines Internets ohne staatliche Eingriffe argumentieren gern, das Netz sei einfach zu groß, als dass es sich wirkungsvoll zensieren ließe: «Bei YouTube werden pro Sekunde 100 000  Jahre Video hochgeladen, deshalb können Anbieter auf gar keinen Fall Einfluss auf Inhalte nehmen oder für Inhalte haftbar gemacht werden.» Das stimmt leider genauso wenig wie die Annahme, das Netz sei einfach zu groß, als dass man darin jemals etwas Sinnvolles finden könne. Beide Seiten, die Nutzer wie die Regulierer, werden sich an die neuen Gegebenheiten anpassen.
    Eines nahen Tages wird sich die Lage beruhigen. Die Nutzer lassen ohne schlechtes Gewissen knapp hundert Prozent der Information im Netz an sich vorüberziehen. Es gibt eine Suchmaschinenoption «Suche nach ähnlichen abstrakten Konzepten», und die Wikipedia führt Listen von Listen von Listen von Listen [39] . Regulierungswillige Stellen haben Möglichkeiten gefunden, die neuen Informationsmengen automatisch nach im jeweiligen Staat Unerwünschtem zu durchkämmen. Journalisten und Sachbuchautoren widmen sich anderen besorgniserregenden Entwicklungen, die unsere Gesundheit, die Jugend oder die Gesundheit der Jugend bedrohen. Und
dann
kommt jemand und erfindet ein Gerät zur automatischen Speicherung von Gedanken oder zur präzisen Standortbestimmung sämtlicher Moleküle auf der Erde einschließlich Versionsmanagement und Backup. Die Informationsmenge verdoppelt sich nicht mehr alle paar Jahre, sondern ab sofort jede Woche. Jetzt geht alles wieder von vorne los.

[zur Inhaltsübersicht]
    8. Das Gute, das Schlechte und das Hässliche
    Von unzuverlässigen Informationen und unhaltbaren Meinungen
    Schade, dass man keiner Bewertung im Internet trauen kann, weil sie alle von Leuten verfasst wurden, die im Internet Bewertungen schreiben.
    @durst, Twitter, 27 . April 2012
    Ins Fernsehen kommt man, wenn man in einer Fußgängerzone «Also da bin ich auch dagegen!» in die Kamera gesagt hat. In die Zeitung darf man zwar hineinschreiben, was man will, aber nur in der Kreuzworträtselrubrik oder im Leserbriefzoo. Und dem Radio ist es völlig egal, ob man ihm Widerworte gibt. Im Internet kann hingegen fast jeder fast alles publizieren. Diese Möglichkeit wird eifrig genutzt, zum Beispiel beträgt die Gesamtlänge der im Jahr 2011 bei YouTube hochgeladenen Videoclips zehn Jahre – pro Tag. In jeder einzelnen Minute werden 1500  Blogbeiträge verfasst, 100 000  Tweets, 500 000  Facebook-Kommentare sowie 168  Millionen E-Mails.
    Schon immer wurde mehr Unsinn gesprochen als Nichtunsinn. Dank Internet wird jetzt auch bedeutend mehr von diesem Unsinn digital verschriftlicht. Dass alle ihre Meinung sagen dürfen, ist schön. Dass davon auch wirklich Gebrauch gemacht wird, erfreut hingegen nicht immer. Die Berichterstattung über das Internet oszilliert zwischen den Polen «Da kann ja jeder alles reinschreiben! Die Brecht’sche Radiotheorie [40] ! Hurra!» und «Da kann ja jeder alles reinschreiben! Das Ende des Guten und Richtigen! Hilfe!». Woher soll man in diesen schwierigen Zeiten wissen, welcher Teil des

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