Internet – Segen oder Fluch
ins Netz Hineingeschriebenen stimmt? Wie unterscheiden, was sich zu lesen lohnt und was nicht?
Die Beschwerdeführer im vorangegangenen Kapitel, die eine unübersichtliche Zunahme des Geschriebenen beklagten, machten sich nicht etwa Sorgen über eine Zukunft, in der ein Überfluss an
klugen
Veröffentlichungen herrschen könnte. Das Unbehagen rührt daher, dass sich zu viele Unqualifizierte zu Wort melden. Der italienische Dichter Petrarca klagte im 14 . Jahrhundert über die unübersichtlichen Zustände auf dem Buchmarkt: «Jedermann will jetzt Bücher machen / Jedermann will die Freiheit haben / so treibt ein Narr immer den andern / Lobet ein Esel den andern / Damit kommt in die Welt solcher Unrat / Wie dann vorhanden». Petrarca verstarb noch vor der Einführung des Buchdrucks. 1471 , die Druckerpresse war gerade einmal zwanzig Jahre alt, schrieb sein Landsmann, der Gelehrte Niccolò Perotti, an einen Freund, er habe «das Zeitalter, in dem wir leben, gepriesen wegen des göttlichen Geschenks der neuen Art zu schreiben, die vor kurzem aus Deutschland zu uns kam». Das habe ihm Anlass zu schönen Hoffnungen gegeben. «Doch, ach, wie falsche und wie allzu menschliche Gedanken! Ich sehe, dass die Dinge eine ganz andere Wendung als von mir erwartet nehmen. Denn weil jetzt jeder weiß, dass er frei ist zu drucken, was immer er mag, wird nicht mehr nur geschrieben, was das Beste ist, sondern vieles nur, um zu unterhalten, und vieles, was besser vergessen würde und ausradiert aus all den Büchern. Und selbst wenn sie etwas schreiben, das es wert ist, drehen sie es so lange, dass es besser nicht existierte, und verbreiten Unwahres in Tausenden von Kopien über die ganze Welt.» So war die Lage vor einem halben Jahrtausend.
«Wenn es in diesem Tempo weitergeht», prophezeite 2007 der Autor Andrew Keen, «gibt es bis 2010 über 500 Millionen Blogs, die gemeinsam die öffentliche Meinung in allen Bereichen, von der Politik über das Geschäft bis zu Kunst und Kultur, verderben und verwirren. Die Blogs sind so schwindelerregend unendlich geworden, dass sie unseren Sinn für wahr und falsch, für wirklich und unwirklich untergraben. (…) Ein weiteres Web- 2 . 0 -Phänomen ist Wikipedia, eine Online-Enzyklopädie, in die jeder mit opponierbaren Daumen und Grundschulbildung einfach alles über jedes Thema (…) veröffentlichen darf. Seit ihrer Entstehung haben über 15 000 Personen fast drei Millionen Artikel in über 100 verschiedenen Sprachen verfasst, und keiner davon wurde redigiert oder auf seine Richtigkeit überprüft.»
Zwar werden die meisten Wikipedia-Einträge sehr wohl redigiert und kontrolliert, aber das ist nicht der zentrale Punkt in Keens Argument. Ihm geht es darum, dass sich das Falsche schneller vermehrt als das Richtige, weil es nur wenige Experten, aber viele Stümper gibt. Außerdem
verwirrt
das Falsche nicht nur, es
verdirbt
auch, indem es «den Sinn für wahr und falsch» untergräbt, also die Qualitätskriterien verwässert. Solche schleichenden geistigen Vergiftungsprozesse werden in Kulturdebatten häufiger beschrieben, ob sie jedoch wirklich stattfinden, ist nicht so leicht zu be- oder zu widerlegen. Aus kulturpessimistischer Perspektive dürfte das Abendland inzwischen acht bis elf Mal nachvollziehbar untergegangen sein. 1821 wurde vor der Lesesucht gewarnt, bei der man «das Wahre und das Falsche prüfungslos durcheinander» liest, 1908 hieß es, Groschenhefte zerstörten «den Sinn für Wirklichkeit und Wahrheit», und 1979 war zu lesen, das Fernsehen mache «die Zuschauer immer unfähiger, das Wirkliche vom Nichtwirklichen, das Innen vom Außen, Selbsterfahrenes von Eingetrichtertem zu unterscheiden». Der heutige Leser lacht, aber aus der Sicht der Kritiker von damals lachen wir gerade,
weil
Lesesucht, Groschenheft und Fernsehen unser Urteilsvermögen zerrüttet haben.
Die Konfliktlinie bei diesem Problem verläuft nicht so sehr zwischen zwei verschiedenen Gruppen, sondern zwischen zwei Wünschen, die durchaus in denselben Kopf passen: Einerseits teilt jeder gern mit, was er sich so ausgedacht hat – sei es als Tweet, Vampirroman oder in dicken Sachbüchern über das Internet. Andererseits haben Wolf Schneider und Paul-Josef Raue wenigstens teilweise recht, wenn sie im 2012 erschienenen «Neuen Handbuch des Journalismus und des Online-Journalismus» schreiben: «Das Internet gaukelt den Menschen vor, sie könnten alles erfahren, billig und schön. Doch sie erkennen
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