Internet – Segen oder Fluch
werden sich früher oder später begegnen. Die Reviewer äußern Änderungswünsche, der Verlag leitet sie an den Autor weiter, der Autor setzt die Änderungen um, und wenn es schließlich keine Einwände mehr gibt, wird der Text veröffentlicht. Dieses Verfahren kann sich schon mal ein bis zwei Jahre hinziehen.
Das 2006 gegründete Online-Wissenschaftsmagazin
PL o S ONE
, die größte Open-Access-Zeitschrift [42] der Welt, hält sich in vielen Punkten an das traditionelle Verfahren: Es gibt eine Redaktion, und jeder Beitrag wird vor der Veröffentlichung dem Peer-Review-Verfahren unterzogen. Der wesentliche Unterschied liegt darin, dass die Redaktion keine Entscheidung darüber trifft, ob ein Beitrag «zu unwichtig» für das jeweilige Fach ist oder überhaupt in dieses Fach gehört. Sie kontrolliert nur die Einhaltung wissenschaftlicher Standards, über die Nützlichkeit des Inhalts sollen die Leser sich selbst ein Urteil bilden.
Erst veröffentlichen, dann verbessern
Die ersten beiden Qualitätssicherungsverfahren sind durch die Rahmenbedingungen geprägt, die der Druck auf Papier vorgibt. Papier kostet Geld und braucht Platz. Wenn sich Gedrucktes nachträglich weder ergänzen noch korrigieren lässt, ist es nur vernünftig, vor der Veröffentlichung den größtmöglichen Aufwand in die Kontrolle zu investieren. Und wenn die gedruckten Aussagen lange Zeit unverändert für sich stehen sollen – und ohnehin niemand an derselben Stelle widersprechen kann –, liegt es nahe, sich auf möglichst solide gebaute Behauptungen zu konzentrieren.
Bei Veröffentlichungen im Netz ist das anders. Das bedeutet, dass es wirtschaftlich weniger wichtig wird, schon vor der Veröffentlichung bestimmte Inhalte auszusortieren. Und es bedeutet, dass es keinen Zeitpunkt mehr gibt, ab dem der Text eine dauerhafte, unveränderliche Form annimmt. Wenn Leser eines Blogs auf Fehler aufmerksam machen, dann erwarten sie, dass ihre Korrekturen in den Text übernommen werden, und zwar am besten nicht stillschweigend, sondern transparent gekennzeichnet. Onlineausgaben von Printmedien haben Kommentarspalten, die Blogkommentaren nicht unähnlich sehen, was dort ebenfalls den – auch 2012 noch nicht immer erfüllten – Leserwunsch weckt, gefundene Fehler korrigiert zu sehen.
In der 2001 gegründeten Online-Enzyklopädie Wikipedia kann jeder nach Belieben neue Beiträge anlegen und vorhandene bearbeiten, ohne sich vorher anzumelden. So ein Modell gab es vorher nicht, und vermutlich wirkte es auch 2001 noch sehr gewagt, denn es entstand nur versehentlich: Die Wikipedia war ein Nebenprojekt der «Nupedia», einer kostenlosen Online-Enzyklopädie, die ganz klassisch von Experten befüllt und kontrolliert werden sollte. Das Nebenprojekt erwies sich schnell als erfolgreich, Nupedia hingegen wurde 2003 eingestellt.
Nach anfänglicher Skepsis stellte sich heraus, dass die Wikipedia nicht so unzuverlässig wie angenommen war: Eine 2005 in
Nature
erschienene Studie fand in zweiundvierzig Artikeln aus dem Wissenschaftsbereich durchschnittlich vier Fehler in jedem Wikipediabeitrag, in den zum Vergleich herangezogenen
Encyclopædia Britannica
-Artikeln waren es drei. Der
Stern
verglich Ende 2007 die deutsche Wikipedia mit der ständig aktualisierten Onlineversion der fünfzehnbändigen
Brockhaus Enzyklopädie
. Bei dreiundvierzig von fünfzig zufällig ausgewählten Einträgen aus diversen Fachgebieten erzielte die Wikipedia bessere Noten als der Brockhaus. Zu Testzwecken eingebaute Fehler werden in aller Regel zügig entdeckt und entfernt – obgleich auch Fälle bekannt sind, in denen Fehler monate- und jahrelang unentdeckt blieben. In der Berichterstattung über solche Tests wiederholt sich der Hinweis, dass Enzyklopädien gleich welcher Art immer Fehler enthalten und nur als Ausgangspunkt für Recherchen dienen sollten. Vielleicht haben die Wikipedia-Diskussionen der letzten Jahre also dazu gedient, eine gesunde Skepsis gegenüber Nachschlagewerken im Allgemeinen zu etablieren. [43]
Vieles am Wikipedia-Konzept war und ist umstritten. Etwa die Frage, was wichtig genug ist, um einen Eintrag zu erhalten. Die «Inklusionisten» argumentieren, dass das Netz so bald nicht voll sein wird und das Nachschlagewerk daher Einträge zu wirklich jedem Thema enthalten sollte, das mindestens einem Menschen, nämlich dem Verfasser des Beitrags, wichtig genug erscheint. «Exklusionisten» plädieren aus Gründen der Wartbarkeit dafür, dass nur relevante Themen
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