Intimitaet und Verlangen
andererseits hatte sie viele Stärken. Sie strahlte eine fundamentale Anständigkeit aus, die wichtiger war als alle ihre Mängel, Ãngste und Schwächen.
Als Sue anfing, an der Stärkung der Vier Aspekte zu arbeiten, gelangten ihre Talente und ihre Kreativität endlich zur Blüte. Sie war erstaunlich kreativ, erfinderisch und klug. Wenn sie sich in einer schlechten Verfassung befand, wurde sie ruppig und schwierig. Lieà ich sie in solchen Situationen nicht »abblitzen«, sondern hörte ihr zu und redete mit ihr â was mit einem Maà an Nähe und Direktheit verbunden war, bei dem sie sich nicht wohlfühlte â, normalisierte sich ihr Zustand augenblicklich. Danach fühlte sie sich gewöhnlich einige Tage lang besser, sie sah besser aus, und sie wirkte generell wesentlich präsenter.
Sue ging auf meine Bemühungen recht gut ein, es gelang ihr aber nicht, die ungewohnte Präsenz anschlieÃend selbständig aufrechtzuerhalten. Ihre Selbstzweifel und Gefühle der Leere tauchten bald wieder auf, und sie wurde mit ihren Ãngsten erneut schwerer fertig.
Zwei Wochen später waren Sue und Joe wieder in ihre altbekannten Muster verstrickt, und Sue war nun wegen dieses Zustandes mutloser als vorher. Sie hatte einen kurzen Eindruck davon gewinnen können, wie das Leben für sie sein könnte â wie sie sein könnte â, und der Moment, in dem sie dies gesehen hatte, war nun wieder in weite Ferne gerückt. Sie verhedderte sich in ihrer Verzweiflung und drohte, darin zu ertrinken. Unsere Sitzung hatte gerade erst begonnen, als Sue schon lamentierte:
»Alles geht in die Binsen! Diese Therapie hilft uns nicht! Ich hatte gedacht, mein Zustand bessere sich. Aber Sie können mir nicht helfen.«
Hätte ich mich in diesem Augenblick von Sue zurückgezogen, es wäre zu einer Katastrophe gekommen. »Ihnen ist es besser gegangen?«
»Diese Therapie hilft mir nicht. Ich brülle meine Kinder an.«
»Ist es Ihnen besser gegangen?«
»Ich kann das einfach nicht.«
»Ist es Ihnen besser gegangen?«
»Sie helfen mir nicht!«
»Ist es Ihnen besser gegangen?«
Sue fing an zu schluchzen. »Ja, es ging mir besser.«
Nach einer Minute sagte ich sanft: »Sie haben einen kurzen Blick darauf geworfen, wie Sie sein könnten. Das wäre nicht möglich gewesen, wenn Sie dazu nicht in der Lage wären. Sie können dieses Maà an Präsenz nur noch nicht ohne Hilfe aufrechterhalten â jedenfalls jetzt noch nicht. Aber wenn Sie sich zusammenreiÃen und aufhören, bei jedem Stolpern in Verzweiflung zu verfallen, wird es irgendwann leichter für Sie sein, diesen Zustand aufrechtzuerhalten.«
Sue tat genau das, was ich vermutet hatte. Nur hatte ich nicht erwartet, dass dies so schnell eintreten würde. Es ging ihr sofort besser. Zwar schniefte sie immer noch, und ihre Wangen waren noch feucht. Aber sie beschimpfte mich nicht mehr. Sie sprach mit mir wie mit einem Menschen, mit dem sie eine Allianz hat.
»Ich habe mich selbst gesehen.«
»Was haben Sie gesehen?«
»Ich sah meine Mutter. Ich beobachtete, wie ich meine Tochter manipulierte, um sie dazu zu bringen, etwas zu tun, das ich wollte. Als sie mir Widerstand leistete, brüllte ich sie an. Ich habe sie verängstigt, und sie hätte alles nur irgend Mögliche getan, um meiner beängstigenden Wirkung nicht mehr ausgesetzt zu sein!« Sue schluchzte: »Ich bin ein Monster .«
Ich lieà ihr eine Minute Zeit für ihre Trauer. »Auf die Gefahr hin, dass ich Ihren Gefühlen nicht gerecht werde: Das ist etwas anderes als das, was ich sehe. Ich sehe eine Frau, die sich in Rekordzeit aus einem starken emotionalen Zusammenbruch befreit hat. Vermutlich waren Sie selbst erstaunt darüber, wie schnell Sie wieder auf die Beine gekommen sind. Ihnen war offenbar gar nicht klar, dass Sie dies können. Deshalb brechen Sie jetzt zusammen.«
Sue schaute mich durch ihren Tränenschleier hindurch an und kicherte, während sie sich die Nase putzte. »Wissen Sie was? Sie kotzen mich richtig an, wenn Sie so klar sehen, was mit mir los ist!«
Joe behauptet sich
Durch unsere Interaktion hatte Sue einen Halt für ihre Selbstkonfrontation gefunden. Und weil die Art, wie man eine Pattsituation durchsteht, darüber entscheidet, wie man daraus hervorgeht, befand sich Sue in einer guten Lage. Auch bei Joe war etwas
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