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Intimitaet und Verlangen

Intimitaet und Verlangen

Titel: Intimitaet und Verlangen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Schnarch
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in Gang gekommen. Er hatte unsere Interaktion und Sues Reaktion miterlebt. Er hatte mit eigenen Augen gesehen, dass bei ihr eine Besserung eingetreten war. Und er wendete all die Dinge, die Sue geholfen hatten, auf sich selbst an.
    Joe beharrte darauf, dass er sich nicht scheiden lassen wolle. Statt seine Erinnerungen zu blockieren, vergegenwärtigte er sich Szenen aus seiner Kindheit, von der zweiten Heirat seiner Eltern und von ihren beiden Scheidungen. Er erinnerte sich daran, dass er sich in den Schlaf geweint hatte, weil die Welt, in der er lebte, völlig zerbrochen war. Er hatte miterlebt, wie seine Mutter und sein Vater als Eltern und als Menschen erbärmlich versagt hatten. Damals hatte Joe sich geschworen, dafür zu sorgen, dass seine Kinder nie so über ihn denken würden.
    Er hatte sich vorgenommen, alles nur Mögliche zu tun, um seine Ehe zu retten – sofern er dabei nicht seine Integrität aufs Spiel setzte. Er musste aufhören, sich aus purer Angst – bzw. wegen Sues Ängsten – zu verkaufen.
    Was dachten Sue und Joe während ihrer Feuerprobe?
    Sue dachte: Joe wird sich nie mehr um mich kümmern. Er wird in Zukunft mehr von mir erwarten. Ich werde bei ihm nicht mehr mit so vielen Dingen »durchkommen«. Er wird von mir erwarten, dass ich mich selbst um meine Ängste kümmere. Er wird mir nicht mehr nachgeben. Ich habe Angst.
    Joe dachte: Wenn ich Sue nicht nachgebe, wird sie so lange die Temperatur erhöhen, bis ich mich doch erweichen lassen. Vielleicht sollte ich jetzt einfach nachgeben. Sobald ich anfange, auf meinem Standpunkt zu beharren und sie so wütend mache, ist die Sache gelaufen. Sue würde mich dann bei lebendigem Leib verspeisen.
    Danach kam es eines Abends im Bett zu einem Gespräch. Joe sagte zu Sue: »Ich werde mich mit den Dingen, die dir wichtig sind, auf jede Weise, die du von mir forderst, auseinandersetzen. Ich werde über alles und jedes mit dir sprechen, bis wir blau im Gesicht werden. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um unsere Ehe zu retten. Aber wenn du mich jetzt verlässt, ist es aus mit uns. Ich werde meinen Kindern nicht antun, was man mir angetan hat. Deshalb lasse ich mich keinesfalls auf eine ›versuchsweise Trennung‹ ein. Ich sage das nicht, um dir zu drohen oder dir ein Ultimatum zu stellen. Und es geht mir auch nicht darum, etwas Unsinniges zu tun, um dich wütend zu machen. Ich sage dir dies, damit du merkst, dass ich zwar nicht drohe, dass es mir aber todernst ist: Entweder bleibst du bei mir, und wir arbeiten an der Sache, oder du gehst, und das war’s.«
    Sue sagte: »Liebst du mich?«
    Joe dachte einen Augenblick lang nach und antwortete dann langsam: »Ich … ich werde darüber jetzt nichts sagen.«
    Daraufhin ließ Sue die Situation eskalieren: »Was soll das heißen: Du willst jetzt nicht darüber reden, ob du mich liebst?«
    Joe spürte, dass sein Gesicht kreideweiß wurde. Sein Magen machte sich bemerkbar, und sein Herz pochte wie wild. Sein Mund wurde trocken, und sein Unterkiefer zitterte. Die Muskeln in seinem Gesicht zuckten, und er kämpfte darum, die Kontrolle zu behalten. Dann sagte er so ruhig, wie er konnte: »Ich werde mit dir nicht darüber reden, ob ich dich liebe, weil das im Moment nicht unser Thema ist. Wir reden darüber, ob du mich verlassen wirst oder nicht. Ich habe alles gesagt, was ich im Moment zu dir sagen kann. Schau selbst, und stelle fest, ob ich dich liebe.«
    Sue empfand eine Mischung aus Wut, Überraschung und Respekt. Sie sagte nichts, doch die augenblicklich eintretende Deeskalation war verblüffend. Der Rüffel, den Joe erwartet hatte, fand nicht statt. Joe wurde von einer Welle des Mitgefühls für Sue überspült. Er sagte: »Wenn du lernen würdest, dich selbst zu lieben, wären wir beide viel glücklicher.«
    Joe schaute zu Boden, und seine Hände zitterten. Er streckte sie nach Sue aus. »Das ist eine verrückte Situation. Ich zittere, mein Herz pocht wie wild, und ich habe entsetzliche Angst. Ich fürchte, dass wir uns scheiden lassen werden und dass du mich völlig zur Schnecke machen wirst. Und gleichzeitig habe ich dieses starke Gefühl, dass ich genau das Richtige tue und dass ich in meinem ganzen bisherigen Leben nie so intensiv das Gefühl gehabt habe, ganz zu sein!«
    Auch Sue erlebte etwas Ungewöhnliches. Sie sah Joe so energisch

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