Intrige (German Edition)
seiner ruhigen Stimme. »Wann war es zu Ende?«
»Vor einer halben Stunde, Herr General.«
»Jetzt ist also alles vorbei?«
Ich nicke. »Es ist alles vorbei.«
Und damit beginnt es.
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»Kommen Sie, setzen Sie sich vor den Kamin«, sagt der Minister. Er spricht wie immer mit sehr leiser Stimme und deutet auf einen vergoldeten Stuhl. »Na los, holen Sie ihn her. Ziehen Sie Ihren Mantel aus. Erzählen Sie uns alles, was passiert ist.«
Gespannt vor Erwartung sitzt er auf der Kante seines Stuhls: den Oberkörper vorgebeugt, die Hände verschränkt, die Unterarme auf die Knie gestützt. Das Protokoll hat ihn daran gehindert, dem morgendlichen Spektakel persönlich beizuwohnen. Er befindet sich in der Lage eines Impresarios, der die eigene Vorführung verpasst hat. Er giert nach Einzelheiten: Einsichten, Beobachtungen, Farbe.
»Als Erstes, wie war die Stimmung auf den Straßen?«
»Ich würde sagen, die Stimmung war … erwartungsvoll.«
Ich schildere, wie ich noch vor Anbruch der Dämmerung im Dunkeln meine Wohnung verließ, um zu Fuß zur École Militaire zu gehen. Auf den Straßen war es für einen Samstag ungewöhnlich ruhig, zumindest anfangs und wohl auch wegen der Eiseskälte. »Der jüdische Sabbat«, wirft Mercier mit einem leichten Lächeln ein. Unterwegs kam mir, was ich jetzt allerdings nicht erwähne, auf den tristen Trottoirs der Rue Boissière und Avenue du Trocadéro der Gedanke, ob die große Inszenierung des Ministers sich nicht als Reinfall erweisen könnte. Doch dann erreichte ich den Pont de l’Alma und sah die schattenhafte Menschenmenge, die sich über das dunkle Wasser der Seine wälzte. Und da wurde mir klar, was Mercier schon die ganze Zeit gewusst haben musste: dass der menschliche Trieb, der Demütigung eines anderen Menschen zuzuschauen, immer genügend Schutz gegen die Kälte bot.
Ich schloss mich den Menschen an, die in Richtung Süden strömten, sich über den Fluss und dann durch die Avenue Bosquet bewegten – die Menge war so dicht, dass sie sich von den hölzernen Gehsteigen auf die Straßen ergoss. Sie erinnerte mich an Rennbahnbesucher – es herrschte die gleiche gemeinschaftliche Spannung, das gleiche einfache Streben nach einem klassenlosen Vergnügen. Zeitungsverkäufer drängten sich immer wieder durch die Menschen, um die Morgenausgaben anzupreisen. Der Duft von gerösteten Kastanien stieg aus den Kohlenpfannen am Straßenrand auf.
Am Ende der Avenue löste ich mich aus der Menge und überquerte die Straße zur École Militaire, wo ich bis vor ei nem Jahr als Dozent für Topografie gelehrt hatte. Die Menschen strömten an mir vorbei zum offiziellen Sammelpunkt auf der Place de Fontenoy. Es wurde langsam hell. Die École hallte vom Lärm von Trommeln und Blashörnern, Pferdehufen und Flüchen, gebrüllten Befehlen und stampfenden Stiefeln wider. An jedes der neun in Paris stationierten Infanterieregimenter war der Befehl ergangen, zwei Kompanien für die Zeremonie abzustellen, eine mit erfahrenen Männern, die andere mit frischen Rekruten, deren Charakter, so Merciers Meinung, durch dieses Beispiel gestärkt würde. Als ich die großen Salons durchquert hatte und auf die Cour Morland hinaustrat, waren schon Tausende Männer auf dem gefrorenen Matsch angetreten.
Ich habe nie an einer öffentlichen Hinrichtung teilgenommen, habe nie zuvor diese besondere Atmosphäre geschmeckt, aber ich stelle mir vor, dass es so ähnlich sein muss wie an jenem Morgen in der École Militaire . Die Weite der Cour Morland bildete die passende Bühne für ein großartiges Spektakel. Und in der Ferne, jenseits der Absperrungen hinter einer Reihe schwarz uniformierter Gendarmen, wogte auf dem Halbkreis der Place de Fontenoy das große raunende Meer aus rosafarbenen Gesichtern. Jeder Zentimeter war besetzt. Die Leute standen auf den Bänken und auf den Dächern von Kutschen und Pferdeomnibussen, sie saßen auf den Ästen der Bäume, und ein Mann hatte es sogar geschafft, auf die Spitze des Kriegerdenkmals von 187 0 zu klettern.
Mercier saugt jedes Detail auf. »Was schätzen Sie, wie viele Menschen waren da?«, fragt er mich.
»Der Polizeipräfekt sagt, bestimmt zwanzigtausend.«
»Tatsächlich?« Der Minister ist weniger beeindruckt, als ich erwartet habe. »Eigentlich wollte ich ja, dass die Zeremonie auf der Rennbahn Longchamp stattfindet. Die hat ein Fassungsvermögen von fünfzigtausend .«
»Und hört sich ja ganz so an, als hätten Sie die auch füllen können«, sagt Boisdeffre
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