Intrige (German Edition)
der Verlautbarung flatterten im eisigen Wind, aber seine Stimme war für einen kleinen Mann wie ihn erstaunlich kraftvoll.
»Im Namen des französischen Volkes«, verkündete er. »Das erste permanente Kriegsgericht der Militärregierung von Paris hat unter Ausschluss der Öffentlichkeit getagt und sein Urteil wie folgt in öffentlicher Sitzung verkündet. Über die folgende einzige Frage hatten die Mitglieder des Gerichts zu befinden: Ist Alfred Dreyfus, Hauptmann des 1 4 . Artillerieregiments, dem Generalstab zugeteilter Offizier und Anwärter für den Generalstab der Armee, schuldig, im Jahr 1 8 9 4 einer fremden Macht oder ihren Mittelspersonen in Paris eine bestimmte Anzahl von geheimen oder vertrau lichen die Landesverteidigung betreffende Dokumenten ausgehändigt zu haben?
Die Richter haben einstimmig erklärt: Ja, der Angeklagte ist schuldig.
Das Gericht verurteilt Alfred Dreyfus einstimmig zur Deportation und lebenslänglichen Haft an einem befestigten Ort, verkündet die Entlassung des Hauptmanns Alfred Drey fus und bestimmt, dass seine militärische Degradierung vor der ersten Paradeformation der Garnison von Paris stattzufinden hat.«
Der Beamte trat zurück. General Darras richtete sich in den Steigbügeln auf und zog seinen Säbel. Der Verurteilte musste den Kopf zurücklegen, um zu ihm aufschauen zu können. Der Kneifer war ihm abgenommen worden. Er trug eine randlose Brille.
»Alfred Dreyfus, Sie sind unwürdig, Waffen zu tragen. Im Namen des französischen Volkes sind Sie hiermit degradiert!«
»Und das war der Augenblick, in dem der Gefangene zum ersten Mal etwas von sich gab«, sage ich zu Mercier.
Mercier zuckt überrascht zurück. »Er hat etwas gesagt?«
»Ja.« Ich ziehe mein Notizbuch aus der Hosentasche. »Er hob beide Arme in die Höhe und rief …« Ich schaue auf meine Notizen, um Dreyfus’ Worte genau wiedergeben zu können. »Soldaten, man degradiert einen unschuldigen Mann … Soldaten, man entehrt einen unschuldigen Mann … Lang lebe Frankreich … Lang lebe die Armee …« Ich lese es einfach vor, ohne jede Emotion, was angemessen ist, da die Worte genauso vorgetragen wurden. Der einzige Unterschied ist der, dass Dreyfus, ein Jude aus Mülhausen, mit einem leichten deutschen Akzent sprach.
Der Minister runzelt die Stirn. »Wie konnte das passieren? Ich dachte, man wollte einen Marsch spielen lassen, wenn der Gefangene zu einer Rede anhebt?«
»General Darras war der Ansicht, dass einige wenige Worte des Protests nicht als Rede anzusehen wären und dass die Musik die Würde des feierlichen Ereignisses gestört hätte.«
»Hat es irgendeine Reaktion aus der Menge gegeben?«
»Ja.« Ich schaue wieder in meine Notizen. »Sie haben angefangen ›Tod … Tod … Tod …‹ zu skandieren.«
Als wir die Sprechchöre hörten, schauten wir zu den Ab sperrungen. »Sie müssen weitermachen, oder aber das Ganze ufert aus«, sagte Sandherr.
Ich bat um das Opernglas, hob es an die Augen, stellte scharf und sah einen Riesen von Mann, einen Feldwebel der Republikanischen Garde, der Hand an Dreyfus legte. Mit einer Serie kraftvoller Bewegungen riss er Dreyfus die Epauletten von den Schultern, die Knöpfe vom Uniformrock und die Goldtressen von den Ärmeln, kniete sich dann auf den Boden und riss ihm die roten Streifen von der Hose. Ich stellte auf Dreyfus’ Gesicht scharf. Es war ausdruckslos. Er schaute geradeaus, während er hin und her gezerrt wurde und die Demütigungen über sich ergehen ließ wie ein Kind, dem ein wütender Erwachsener die Kleidung in Ordnung brachte. Schließlich zog der Feldwebel Dreyfus’ Säbel aus der Scheide, steckte die Spitze in den harten Matsch und zerbrach die Klinge mit einem Kniestoß. Er warf die beiden Hälften auf den kleinen Kurzwarenhaufen vor Dreyfus’ Füßen, trat zwei zackige Schritte zurück, wandte den Kopf dem General zu und salutierte, während Dreyfus den Blick senkte und die zerrissenen Symbole seiner Ehre betrachtete.
»Na los, Picquart, Sie haben das Fernglas«, sagte Sandherr ungeduldig. »Erzählen Sie uns, wie er aussieht.«
»Er sieht aus wie ein jüdischer Schneider, der den Preis für all die unbrauchbaren Goldtressen abschätzt«, sagte ich und gab dem Angestellten das Opernglas zurück. »Fehlt nur noch das Maßband um den Hals, dann könnte er in jeder Schneiderei in der Rue Auber stehen.«
»Das ist gut«, sagte Sandherr. »Das gefällt mir.«
»Sehr gut«, sagt Mercier wie ein Echo und schließt die Augen. »Ich sehe
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